Grayday
lange dauern, bis man die Auswirkungen zu spüren bekam. Er war so müde, dass er kaum denken konnte. Der Text von Leelas wunderbarem Liebeslied aus Crisis Kashmir ging ihm im Kopf herum.
O my love, o my darling
I’ve crossed the line of no control
I hear your gunfire in my Valley
You’ve tripped my wire
You have my soul
I’ve crossed the line
The line of no control.
Kurz vor der Mittagszeit – oder was die Mittagszeit gewesen wäre, wenn jemand bei Virugenix solche Konventionen beachtet hätte – versammelte sich eine aufgeregte Schar von Ghostbusters in Darryls Büro. Nach einer kurzen Unterhaltung gingen sie alle in den Kontrollbereich und betrachteten etwas auf einem der Bildschirme. Arjun, der über seine Kabinentrennwand schielte, wusste sofort Bescheid. Jemand hatte ein Sample zur Analyse eingeschickt: Das Spiel hatte begonnen. Am frühen Nachmittag befand sich das gesamte Antivirus-Leitungsteam in dem Raum mit den Plexiglaswänden und sah zu, wie Leela Zahir in einer ruckeligen Fünf-Sekundenschleife aus dem holi- Tanz in Naughty Naughty, Lovely Lovely über zehn Monitore tanzte.
Die Erregung war unbeschreiblich. Leela riss die Augen weit auf und machte in Richtung des Betrachters eine kokette Bewegung, als wollte sie ihn rüffeln, während das Londoner West End kurz im Hintergrund sichtbar wurde. Und noch einmal. Und noch einmal.
Es funktionierte.
Arjun wusste, was sich hinter den Augen und dem Lächeln abspielte: dass Leela Ressourcen aus anderen Programmen stahl, Festplattenplatz besetzte und es sich darauf behaglich machte. Dass sie vielleicht auch andere Dinge tat: böse, schädliche Dinge. Jetzt war nur die Frage, wie schwer es den Analysten fiel, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Als Clay mit strahlendem Gesicht an seinem Schreibtisch vorbeiging, konnte Arjun sich die Frage nicht verkneifen, was los sei.
»Mann, der echte Knaller, das ist los!« Clays Stimme hob sich am Ende jedes Satzes, als stellte dieses Ereignis alles, die ganze Welt in Frage. »In den letzten zehn Minuten haben wir fünf verschiedene Samples aus etwa drei Orten in Südasien bekommen. Der Kundendienst hat gerade einen Anruf von einem Typen aus Auckland erhalten, einer Stadt in Neuseeland, glaube ich. Der Direktor irgendeiner Versicherungsgesellschaft musste gerade sein ganzes Netzwerk abschalten, ich meine, einfach alles. Der ist total ausgeflippt!«
Beim Weggehen klatschte der Kollege mit der Begeisterung eines Collegesportlers seine linke Faust in die rechte Handfläche. Furcht fuhr wie eine dünne Nadel hinauf durch Arjuns müdes Hirn. Eine ganze Firma war lahm gelegt worden. Jetzt wurde es ernst.
A ls es auf dem Atoll Kiritimati im Pazifik 10.12 Uhr war und ein glückloser Garnelenfischer auf seinen Laptop zu fluchen begann, verließen in London Guy und Gaby gerade die Premierenfeier für einen Film, der das Remake eines anderen Films war, und stiegen in ein Taxi. Guy hatte den ganzen Abend mit kaum jemandem geredet. Gabriella hingegen war Mittelpunkt einer angeregten Clique gewesen, die sich Witze erzählt und Visitenkarten, Handynummern und Essenseinladungen ausgetauscht hatte. Guy war zu sehr in Gedanken, um eifersüchtig zu sein.
Die ganze Situation war sehr Old Economy.
Yves Ballards Mitteilung war unmissverständlich gewesen. Transcendenta würde sich außerstande sehen, eine weitere Finanzierungsrunde abzuschließen, wenn Tomorrow* nicht die allgemeinen Kosten herunterfahren und sich neue Aufgaben schaffen würde. Ohne Finanzierung hatte Tomorrow* nur noch für wenige Monate Geld. Yves hatte zwar ein wenig drumherum geredet, was genau geschehen könnte, aber doch keinen Zweifel daran gelassen, dass Transcendenta nicht zögern würde, den Hahn zuzudrehen.
Er driftete mit seinen Gedanken zu Kalkulationen zurück. Tomorrow* und alles, was damit verbunden war, hing inzwischen von drei Aufträgen ab. Dem für das Medikament SSRI, über den er gerade in New York verhandelt hatte, und zweien, die er nächste Woche unter Dach und Fach bringen musste – mit der Wellnesshotelkette am Golf und mit PEBA, der neuen Gesamteuropäischen Grenzbehörde, einem Kunstgebilde der EU-Integration, das die Zuwanderung und die Zollsysteme aller Mitgliedsstaaten miteinander in Einklang bringen sollte. Falls einer von ihnen klappte, würde es vielleicht genügen, Transcendenta dazu zu überreden, sich zurückzuhalten. Wenn er allerdings mit sich ehrlich war, musste er zugeben, dass die Leute von der Arzneimittelfirma offenbar
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