Grayday
wütend, dermaßen in die Ecke getrieben zu werden. »Yves, es ist schön, Sie zu sehen, aber mich wundert, warum Sie diese Unterredung nicht mit Kika vereinbart haben. Wir arbeiten im Augenblick an mehreren Aufträgen. Es wäre einfacher gewesen, Zeit für dieses Gespräch zu finden, wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen.«
»Natürlich. Aber ich war halt gerade in London und wollte sehen, wie die Dinge bei Tomorrow* vorankommen – ganz inoffiziell. Ich bin hier als Freund, Guy. Ich bin hier, um Ihnen Rückendeckung zu geben.«
Der Regen hatte aufgehört, und wässeriges Licht drang durch die Fenster. Über Guys Kopf flatterten drei riesige rote Fahnen, Überreste eines Auftrags für einen Depeschendienst, in der Zugluft eines offenen Fensters. Jede zeigte ein einziges anspornendes Wort in einer weit auseinandergezogenen serifenlosen Schrift.
Spielen
Verändern
Begeistern
Der Depeschendienst war zu einer anderen Agentur gegangen, aber die Fahnen fand Guy zu gut, um sie wegzuwerfen. Heute kam es ihm so vor, als seien sie trotz ihrer positiven Botschaften eher ein Teil des Problems von Tomorrow* als von seiner Lösung. Trotz all seiner organisatorischen Innovationen, trotz seines Ethos der Offenheit und seiner ganzheitlichen Einstellung zur Neupositionierung von Marken hatte Tomorrow* im Moment ziemlich wenig Aufträge. Transcendenta hatte mehrere Millionen Euro an Risikokapital investiert, aber mit dem Bau, der Erweiterung, durch den Vertrauensverlust nach dem 11. September und seine Vorliebe für echt cooles Firmenspielzeug hatte Guy es mehr oder weniger verheizt. Das letzte echte Projekt, das Markennamenaudit für einen Halbleiterhersteller, war vor zwei Monaten eingestellt worden. Plötzlich fühlte er stechendes Misstrauen. Wusste Yves über seine Ausgaben Bescheid? Diesen letzten Monat war er sogar über sich selbst erschrocken.
»Sollten wir das vielleicht«, schlug Guy versuchsweise vor, »beim Mittagessen besprechen?«
»Nein«, sagte Yves. »Kein Mittagessen. Das macht uns nur fett.«
»Pardon?«
»Wir wollen doch nicht fett werden. Fette Menschen bewegen sich langsam. Fette Firmen auch. Die Dinge stehen im Augenblick sehr schlecht, Guy. Es ist nicht die Zeit für Zügellosigkeiten. Ich habe eine Ihrer Sekretärinnen Sandwiches holen geschickt. Wir essen sie hier, und Sie klären mich über die Abteilungen Ihrer Firma auf, die wirklich notwendig sind.«
Es war schlimmer, als er es sich jemals hätte ausmalen können. Dabei hatte Leela noch nicht einmal ihr Werk begonnen.
Ü berall auf der Welt war Donnerstag, der 12. Juni, ein ruhiger Tag. Bomben explodierten in Djakarta, Djenin und Taschkent. Ein älterer einwandiger Tanker sank vor Manila und entließ seine Rohölladung ins Südchinesische Meer. In Malawi wurde bei einem Mann eine Infektion mit einem bisher unbekannten Retrovirus festgestellt. Auf dem Londoner Flughafen Heathrow wurden zwei ghanaische Jungen erfroren im Fahrwerk einer Boeing 747 gefunden.
Während Guy mit Yves schwer verdauliche Sandwiches aß, flirrte bereits der Sonnenaufgang über den Pazifik. Über dem Golf von Mexiko hatte eine F16 der US Airforce kurzen Kontakt mit einem unbekannten Flugobjekt aufgenommen, und in Tasmanien wurde eine Mutter zweier Kinder am Grund einer Schlucht in ihrem Ford Cortina eingeklemmt gefunden, die sich drei Tage lang mit geschmolzenem Schnee und Hungry-Jack’s-Barbecue-Soßenpäckchen am Leben erhalten hatte. Arjun war noch immer wach in seinem Zimmer in Berry Acres und starrte auf seinen Bildschirm. Er hatte nicht geschlafen und fuhr Freitagmorgen zeitig zur Arbeit, wobei er im Bus dem Soundtrack von Crisis Kashmir lauschte, dem Film, in dem Leela Zahir die Tochter eines Soldaten spielt, die sich in einem Netz aus Terrorismus und internationalen Intrigen verfangen hat.
Den Morgen verbrachte er damit, eine Korrekturroutine für ein verbreitetes Makrovirus, die Clay geschrieben hatte, laufen zu lassen und zu überprüfen. Vor Müdigkeit schwammen ihm gelbe Punkte vor den Augen herum. Man ließ ihn in Ruhe. Seit er seinen Job verloren hatte, war er kein realer Mensch mehr, er entschwand bereits in der Erinnerung. Er saß vor seinem Terminal, beobachtete die Uhr rechts unten auf dem Bildschirm und wartete auf die magische Stunde. Leela Zahir war am 13. Juni vormittags um 10.12 Uhr auf die Welt gekommen. Wenn es ihm gelungen war, etwas zuwege zu bringen, wenn sein Code nicht irgendeine unvorhergesehene Macke enthielt, würde es nicht mehr
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