Graz - Novelle

Straße, wo Jochen Jonathan Erhat gelegen hatte, mit weiten Armen und geknicktem Hals, sah ich nicht. Ich vermutete es nur, da unten. Ich unterschied links die Konturen der kahlen Bäume im Garten der Musikuniversität, die Linie der glänzenden Schienen, die um die Ecke des Parkhotels verschwanden, den glänzenden Gehsteigrand gegenüber der Maiffredygasse, und rechts das dunkle Loch, das den Rest der Straße andeutete, dahinter dann die Stadt – die ich dort nur wusste. Ich erinnere mich, dass ich mit den Fingern meine Lippen betastet habe. Ich habe den Fenstergriff in die Hand genommen. Ich habe meine Brust gestreichelt, ich habe meinen Bauch gestreichelt. Dann habe ich die Hände in meinen Nacken gelegt, mich selbst umarmt. Eine Zeitlang verharrte ich beinahe atemlos. Kurz habe ich mich umgesehen, ob meine Eltern im Zimmer waren. Ich habe zur Stelle, die ich Gegenüber nenne, hingestarrt. Ich habe den Schimmer des Mondlichts da draußen mit weit geöffneten Augen nach innen gezogen, doch die Fenster des Parkhotels blieben blind. Eine Zeitlang lächelte ich, weil ich an den Augenblick dachte, wenn das Problem gelöst sein würde. Ich hörte schon die elektrischen Wecker. In der gesamten Stadt weckten sie Männer und Frauen früher als vorgesehen. Generatoren piepten, summten. Lichter gingen ungefragt an. Sirenen heulten. Das Surren des Stroms weckte die Stadt, gerade jetzt, wo sie ihren zweiten Schlaf begonnen hatte.
    Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Ich sah, dass die Fensterbank mehr Mondlicht fing als ich. Ich konnte sogar die Spione links und rechts der Fenster erkennen. Ich betrachtete sie, von links nach rechts und wieder zurück, als ob ich sie verglich, und auf einmal waren nur zwei Gedankensprünge notwendig. Der erste: Der rechte Spiegel hatte ein paar Stunden zuvor das Licht einer Straßenlaterne gefangen. Der zweite: Der linke Spiegel hatte das Licht widergespiegelt, fallen gelassen, gerade als ich dort unten stand.
    Mit einem Schlag verging mir das Lachen.
    Ich wusste auf einmal mit ziemlicher Sicherheit, dass die Spiegel früher am Abend ein Unglück verursacht hatten. Eine Ursache mit Folge. Schmerz im Nacken deutet auf Schmerz im Unterarm, deutet auf Schmerz in der Verbindung zwischen Daumen und Zeigefinger, deutet garantiert auf Schmerz in den Gedärmen. Ich war nicht davon abzubringen. Wenn ich da unten auf der Straße ohne Fahrrad geblendet werden konnte, dann konnte ein Junge auf einem Fahrrad auch geblendet werden, und wenn man denkt, mit dem Fahrradreifen die Straßenbahnschienen nachfahren zu können, dann würde man unerbittlich den Asphalt spüren müssen. Noch dazu, wenn eine Einkaufstasche am Lenker hängt. Dann verstreut man, noch bevor man es sich versieht, Milch, Orangen, Kuchen und Krapfen. Man legt, noch bevor man es weiß, Rosen für sich selbst nieder, Grand Prix aus dem Hause Pammer.
    Dann gab es wieder Strom.
    Die Neonlampen über der Maiffredygasse flackerten auf wie in einer großen Lagerhalle. Ich hörte Musik, doch vielleicht bildete ich mir das nur ein. In der Küche piepte der Timer der Mikrowelle. Hinter den Fenstern einiger Häuser in der Straße brannten die Lichter so hell wie noch nie. Ich stellte mir vor, wie die Leute in den offenen Türen der Zimmer standen, mit der Hand am Lichtschalter. Sie sahen schlaftrunken nach oben, den Mund weit offen, als ob sie die Deckenlampe, die sie selbst aufgehängt hatten, zum ersten Mal brennen sahen. Die Kellerräume bei Hürlimann badeten in Licht. Drinnen wimmelte es von Schatten.
    Das Fenster im ersten Stock des Parkhotels war dunkel. Die Nacht hing unbeweglich zwischen den Falten der dicken Vorhänge.
    Ich tat einen Schritt nach hinten und verschränkte die Arme. Im Dunkeln hatte sich der Wind die Zeit genommen, um sich hinzulegen.
    „Sieh mal an“, sagte ich.
    Es begann zu schneien. Der Schnee fiel lotrecht.

Children don’t forget, children don’t forget
.
    WOOLF

Als mein Vater sechzig wurde, wollte er unbedingt auf ein Abendessen zum Welscher in der Schmiedgasse. Sein Vorschlag überraschte mich. Es war Dienstag und normalerweise war Essen für ihn nichts Besonderes. Er ließ auch noch ein Taxi kommen. Als er einstieg und bemerkte, wie ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, ließ ihn das völlig unberührt.
    Beim Welscher bestellte er, ohne die Karte aufzuschlagen, das marinierte Rindfleisch, das er immer wählte, und betonte, dass er ein Kännchen Sauerrahm zu seinem Teller wünschte, doch das