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Graz - Novelle

Graz - Novelle

Titel: Graz - Novelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luftschacht-Verlag <Wien>
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lassen als den Ton eines Bekenntnisses. „Ich war ein bisschen zu lange mit pharmazeutischer Literatur zugange, um jetzt noch ein Buch genießen zu können.“
    Die Frau drehte ihre Augen einen Moment eher zu mir als ihr ganzes Gesicht und spitzte die Lippen.
    „Ich esse schon seit ich zwei war Brot“, sagte sie.
    „Ja“, sagte ich. „Brot ist Nahrung. Die Liebe zu Brot habe ich nicht verlernt.“
    „Das sagt er auch noch mit einem Lächeln“, sagte sie, und sie stützte eine Hand in die Hüfte und hielt sich mit der anderen Hand an der Zigarette in der Luft fest. Hätte sie ein Glas Wein gehabt, hätte sie es hinuntergekippt.
    Sie neigte sich zu mir und berührte kurz meinen Arm, ich sollte ihr vertrauen. Sie stand ein wenig zu weit weg, sonst hätte sie meine Schulter angefasst.
    „Ich denke nicht, dass man etwas verlernen kann, wenn man es nie gelernt hat“, sagte sie.
    Ich stieß ein brummendes Geräusch aus und versuchte, amüsiert zu schauen. Ich zog die Mundwinkel einwärts, so wie ich es tat, wenn Kunden nicht nur lange bummelten, sondern auch noch uninteressante Dinge sagten.
    Nach den Hirten haben die Alten am längsten Zeit. Sie verfallen am häufigsten in Wiederholungen. In ihren Handtaschen hat alles ein eigenes Fach, aber auch in ihren Köpfen. Die Taschen der Minister werden durchgescheuert von dem Geld, das darin verschwindet, die Jugend ist immer von heute, früher war alles besser, und selbst haben sie ihre beste Zeit gehabt.
    Ich versuchte es mit einem neutralen: „Ach“, so wie man es sagt, wenn man sich gleich verabschieden wird.
    „Ach“, antwortete die Frau, und sie kniff noch einmal in meinen Unterarm. „Ach ist der Anfang des Desinteresses. Manchmal komme ich frühmorgens hierher. Manchmal mittags. Ich meine: zum Glockenturm. Nicht um so wie jeder das Läuten der Glocke zu hören. Ich komme wegen des Geräusches von vorhin.“
    Ich wölbte die Augenbrauen.
    „Ja, dafür“, wiederholte sie. „Wenn du dich kurz vor sieben Uhr oder kurz vor zwölf neben den Turm stellst, kannst du hören, wie die Glocke aus dem Stillstand in Bewegung gebracht wird, ohne dass der Schwengel losgelassen wird. Du hörst die Balken krachen. Du hörst die Bewegung der Luft.“ Sie stellte sich wie eine Glocke vor mich hin. Sie krümmte den Rücken, ließ den Kopf und die Arme hängen und bewegte sie hin und her. Wumm. Und noch einmal, stärker, wumm.
    „Und dann“, sagte sie, und sie unterbrach sich selbst und richtete sich wieder auf.
    „Dann ist es sieben Uhr, zwölf Uhr. Dann darf der Schwengel einsetzen, hundert und ein Mal kommt das Geläute. Touristen machen Fotos davon. Dong. Dong. Dong. Als ob sie das Läuten dann hundert und ein Mal auf dem Foto sehen könnten, wenn sie wieder zuhause sind, in Italien oder was weiß ich wo.“
    Ich hob die Arme leicht nach oben und ließ sie wieder fallen.
    „Tatsächlich“, sagte die Frau. „Die Leute zählen mit den Fingern mit und gehen davon aus, dass sie Zeugen eines wichtigen Moments sind. Hundert und ein Glockenschlag. Wenn das Läuten aufhört, höre ich sie einander fragen, was sie jetzt machen sollten. Dabei versäumen sie, wie sich die Glocke wieder beruhigt. Sie zieht an den Balken, sie rauscht immer leiser. Fuumm. Fuumm.“ Ihre Arme baumelten noch kurz nach und hingen dann still. „Man sollte sie dazu zwingen, ihr Ohr gegen den Glockenturm zu legen und dem echten Klang zuzuhören. Man sollte sie dazu zwingen, dies frühmorgens zu tun, um sieben Uhr. Dann dröhnt die Glocke eigentlich am schönsten, weil der Tag dann so jung ist.“ Ich sagte, dass ihre Geschichte unglaublich sei. Aber, wollte ich wissen, warum fing sie von dem Glockenläuten an, wo wir doch über Bücher redeten?
    Sie drückte die Zigarette gegen ihre Lippen und zog daran. Der Geschmack widerte sie an. Sie schaute den Stummel an, schnippte ihn mit dem Zeigefinger weg und sagte: „Dass du das nicht verstehst.“
    „Nein“, sagte ich. „Sie sprechen die Sprache der Künstler.“ Die Frau lächelte. Es war genau das gleiche Lächeln, das ich einsetzte, wenn der nächste Kunde dran war, aber derjenige davor das Pult nicht losließ. Das schockierte mich ein bisschen, doch mehr noch schockierte mich die Frau.
    Sie zog den Rotz in ihrer Nase hoch und sagte: „Was sagt dein Freund dazu?“
    Ich verzog meine Augenbrauen und fühlte, wie ich zurückscheute.
    „Entschuldigung?“, sagte ich.
    „Dein Freund“, sagte die Frau. „Oder irre ich mich?“
    Die gläserne Glocke,

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