Graz - Novelle
dem Lächeln, das ich immer aufsetzte, wenn es lange dauerte, bis der eine Kunde am Verkaufspult dem anderen Platz machte.
„Sie verfolgen mich“, sagte ich.
Die Frau zog ihre Augenbrauen hoch und verwendete ein englisches Wort, woraus ich schloss, dass sie nicht verstanden hatte, was ich meinte. Sie zeigte zu der hohen Mauer hinter uns.
„Ich komme immer hierher“, sagte sie und sie stieß mit dem Kinn in Richtung Boden. „Hier ist weniger Wind als dort. Hier steht man mehr oder weniger abseits der Zugluft.“ Ich zog die linke Schulter nach oben und dann die rechte Schulter, als ob meine Schulterblätter eine Decke wären, die ich so über mich hindrapierte. Ich sagte, dass ich den Unterschied noch nie bemerkt hätte.
„Ja“, sagte die Frau fast singend und sie machte dabei nickende und schüttelnde Bewegungen mit dem Kopf, als ob sie noch zweifelte, ob sie mir Unrecht oder ein bisschen Recht geben sollte. Sie sagte, dass sie in The English Bookshop auf dem Tummelplatz arbeitete und dass das dort an der Ecke manchmal eine andere Welt war im Vergleich mit dem Rest der Stadt.
„Eine andere Welt?“, sagte ich.
„Ein anderes Klima“, beteuerte sie. Sie klopfte den nicht vorhandenen Schnee von ihrer Jacke und zog die Nase auf, sie war erkältet. Den Mund musste sie etwas geöffnet halten, um Luft zu bekommen.
„Nicht jeder erfährt überall dieselbe Temperatur“, sagte sie. „Das ist logisch. Unter den Menschen gibt es eben Wintertypen und Sommertypen.“ Ihr Gesicht wurde klarer. „Nur auf dem Tummelplatz, da ist immer Sommer. Da ist es für jeden immer wärmer als anderswo.“ Sie grinste breit und zog noch einmal die Nase auf. „Überrascht Sie das?“
„Ich wusste nicht, dass es in Graz eine englische Buchhandlung gibt“, sagte ich.
„Hello“, sagte die Frau. „Wo soll sie denn sonst sein? In Pram?“ Ich kicherte, nicht weil ich es lustig fand, sondern weil ich nicht sicher wusste, ob es eine Stadt gab, die Pram hieß, und weil sie den Namen auf Englisch aussprach und es dadurch wie ein bestehender Begriff klang.
Ich wurde kurz still. Die zwei Wege, die ich hinaufgehen konnte, waren gesperrt. Was sie über Temperatur sagte, fand ich Unsinn, und von englischer Literatur hatte ich keine Ahnung. Wenn es nicht im Radio gewesen war oder einen Preis gewonnen hatte, kannte ich das Buch nicht. Wann hatte ich in den letzten Jahren Zeit gehabt, um eine Geschichte ganz zu lesen?
Ich spazierte hinter dem Hackher-Löwen entlang und hatte vor, mich zu verabschieden. Ich dachte: Ich wechsle noch ein paar Worte, ich frage, woher sie denn genau kommt und ob sie schon lange hier wohnt, ich mache ihr ein kleines Kompliment, weil sie fast akzentfrei spricht, und grüße sie, bis auf Nimmerwiedersehen.
So einfach konnte ich ihr nicht entkommen.
Die Frau spazierte vor dem Löwen entlang und wählte einen Stein aus, an den sie sich anlehnte. Das eine Bein ließ sie in der Höhe ihres Knöchels auf dem anderen ruhen. Sie schnäuzte sich. Sie fragte, ob ich viel lese.
„Bücher?“ sagte ich.
Sie steckte das Taschentuch weg und rückte das rote Tuch unter dem Kinn zurecht. „Ja, natürlich, Bücher“, sagte sie. Sie begann, in ihren Jackentaschen zu kramen. Sie zog Tabak und Zigarettenpapier heraus. Ohne auf ihre Hände zu schauen, verwandelte sie das raschelnde Zigarettenpapier in eine Zigarette. Das Streichholz, das sie anzündete, ließ das letzte bisschen Gesumme der Stadt in Rauch aufgehen. „Eines die Woche? Eines am Tag?“
Ich sagte: „Was soll ich sagen?“ Ich blies die Luft vor mir aus und gab die Hände vor die Brust, um eine Waage zu zeigen. Das nahm Zeit in Anspruch, denn es war eine Waage, die sehr genau wog.
Schnee löste sich von einem Ast.
Sie hatte überhaupt keine Geduld. Sie sagte: „Also?“ „Also“, sagte ich. „Im The English Bookshop wird pro Woche oder pro Tag gezählt. In meinem Fach geht es um das Nano.“
Sie sah mich an und behielt den Rauch, den sie soeben eingeatmet hatte, eine Zeitlang bei sich.
„Das Nano“, sagte sie. Mit der Hand, mit der sie die Zigarette hielt, kratzte sie sich an der Nase.
Sie verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein, schlug einen Arm um ihren Bauch und legte den anderen Arm darauf. Sie war der rotweintrinkende Typ, der von sich selbst dachte, dass er nach jedem Glas klarer formulierte. „Eigentlich willst du sagen, dass du nie liest“, sagte sie. „Nie“, sagte ich. Ich versuchte, mehr den Ton eines Zweifels durchklingen zu
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