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Graz - Novelle

Graz - Novelle

Titel: Graz - Novelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luftschacht-Verlag <Wien>
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Liebesmüh.“
    „Was?“, sage ich dann.
    Sie schlagen immer mit der Türe, wenn sie abrauschen. Ich knipste die Neonlampen im Zubereitungsraum an und schaltete in einem Teil der Apotheke auch die Vitrinenbeleuchtung ein. Ich blätterte durch das Register mit den wichtigen Telefonnummern und stieß auf die Krankenhäuser. Das Register tat schon seit Jahren seinen Dienst. Irgendwann hatte mein Vater die Krankenhäuser unter dem Schlagwort „Notfälle“ eingeordnet, etwas, das ich konsequent vergaß. In der Liste der Krankenhäuser fand ich das Landeskrankenhaus nicht. Ich las immer wieder die Namen durch, konnte meinen Augen nicht glauben, und als ich es beinahe schon aufgegeben hatte, fiel mir ein, dass ich nach dem Universitätsklinikum suchen musste, und da stand es.
    Ich unterstrich die Nummer mit dem Zeigefinger und griff nach dem Telefon an der Wand.
    Dann sah ich zur Seite.
    Ich stand einen Meter entfernt von mir in dem gläsernen Kasten. Ich stand da nicht deutlich, da das Neonlicht viele Schatten warf und das Glas an den Stellen, wo die weißen Tiegel mit Glucose und Lactose standen, nicht spiegelte. Trotzdem konnte ich mich genau erkennen, und ich passte exakt in die Türe. Ich sah die Krümmung meiner Zehen, die Wölbung meiner Waden, meine verhältnismäßig mageren Oberschenkel, meine linkstragenden Unterhosen, die gegen den Abend hin immer ein bisschen zogen, da sie nicht mehr so elastisch waren, die bescheidenen Fettpölsterchen links und rechts über dem Gummiband, meinen Bauch, der nicht straff war, jedoch auch nicht hervorquoll, meinen Torso mit den Brustwarzen, mit dem ich selbst zufrieden war, und das kleine T von Brusthaar, das ich gut fand, meine zu schmalen Schultern, weil ich früher nie Sport betrieben habe, meinen mageren Hals, mein gräuliches, kurzes Haar, das seltsamerweise fast wieder einen Jungen aus mir machte, meinen scharf geschnittenen Mund, meine hohen Wangenknochen, meine gute Nase.
    Meinem Blick wich ich aus.
    Ich wurde von meiner Hand abgelenkt, die das Telefon losließ und sich langsam zurückzog. Meine Hand schloss das Register und legte sich auf den Kasten. Mein Kopf sackte weg, während ich ihn ansah. Das Schrumpfen schien mit dem ganzen Körper vor sich zu gehen. Alles wurde kleiner, alles schmolz ineinander. Gleich würde ich verschwinden. Fantasie hat viel Macht. Mit Fantasie sind wir in der Lage, uns alles vorzustellen, was andere Menschen denken und fühlen. Der Bequemlichkeit halber gehen wir davon aus, dass unsere Vorstellung die richtige ist. Unsere Gedanken sind wahr.
    Wenn jemand sagt, dass er eine Familie hat, denken wir uns selbst das Glück dazu, da uns immer vorgemacht wurde, dass Familie und Glück untrennbare Zwillinge sind. Wenn jemand sagt, dass er das Glück gefunden hat, dann geben wir ihm selbst die Liebe seines Lebens, wobei die Liebe und das Glück nicht notwendigerweise im gleichen Bett schlafen. Ich kann mir vorstellen, dass das Glück nicht gerne alleine schläft, aber ich denke nicht, dass das Glück immer neben der Liebe liegt.
    Mein fast nackter Körper, den ich in der Nacht nach dem Unglück von Jochen Erhart in meinem gläsernen Schrank sah, wurde noch nie von jemand anderem als mir selbst betrachtet. Niemand hatte je die Chance bekommen, zu urteilen, ob meine Zehen zu lang waren oder zu weit auseinanderstanden. Niemand hat die Wölbung meiner Waden verfolgt und besungen. Niemand hat voll Begierde meine mageren Oberschenkel angesehen, meine linkstragenden Unterhosen. Niemand hat die bescheidenen Fettpölsterchen links und rechts über dem Gummibund fest gepackt und perfekt gefunden, um danach den Gummibund nach unten zu schieben. Niemand hat gesagt, dass mein Bauch noch ein paar Größen mehr auseinandergehen könnte, weil Fett gut ist. Niemandem ekelte vor meinen Brustwarzen, dem Haar um meine Brustwarzen, meinem Brusthaar. Es gab auch niemanden, der gesagt hatte, dass es ein schönes T war. Niemand hatte zu mir gesagt, dass schmale Schultern, ein magerer Hals und kurzes Haar, hohe Wangenknochen und alles, alles, alles, was einen Jungen ausmachte, gut war.
    In diesem Moment kam es mir, dass ich im Zubereitungsraum meiner Apotheke stand, in Unterhosen, in einem Bad von Neonlicht.
    Die Scham legte sich wie zwei warme, klebrige Hände in meinen Nacken.
    Kaum eine Minute zuvor hatte ich noch den Plan gehabt, im Landeskrankenhaus anzurufen. Kaum eine Minute zuvor hatte ich noch den Plan gehabt, die andere Person am anderen Ende der Leitung zu

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