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Graz - Novelle

Graz - Novelle

Titel: Graz - Novelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luftschacht-Verlag <Wien>
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fragen, ob Jochen Jonathan Erhart in das Landeskrankenhaus aufgenommen worden sei. Und wenn ja, wie es ihm gehe. Beinahe hätte ich zugegeben, dass ich etwas mit dem Unglück des jungen Mannes zu tun hatte.
    „Und wer sind Sie denn eigentlich, mein Herr?“
    „Hermann Eichler. Von der gleichnamigen Apotheke.“
    Ich stieß die Luft aus meiner Lunge. Der Atem war ein abfälliges kleines Lachen. Ich zog die Augenbrauen hoch, um mir selbst in dem gläsernen Schrank zu zeigen, was ich von meinem Betragen hielt, und klickte mit giftigem Klopfen die Schalter im Zubereitungszimmer und in der Apotheke um.
    Ich befahl mir selbst, sofort schlafen zu gehen. Vielleicht war es ratsam, mich am Bett festzubinden, dann konnte ich nichts mehr anrichten in der Welt. Vielleicht war eine Schlaftablette die Lösung.
    Tastend suchte ich in der Lade die Schachtel Hoggar Night. „Schau, du Idiot“, zischte ich mir zu. „Schau, wie du jetzt in dem Chaos wühlst, das dein Gehirn lahmlegt.”
    Meine Unterhosen zog ich oben an der Treppe schon aus und ich warf sie von der Türe aus unter den Stuhl neben dem Bett. Die Schachtel Schlaftabletten schmiss ich auf meine kalte Kleidung.
    Sobald ich die Lampe über dem Spiegel im Badezimmer einschaltete, sprangen mir türkise Fliesen entgegen. Ich erschrak schon lange nicht mehr, wie rosig ich da immer vor dem Spiegel stand, inmitten all dieses tropischen Blaus und all dieses Glanzes bis zum Plafond.
    Hoch oben an der Mauer hinter mir glühten die Wärmeelemente der Heizung auf. Meine Schultern wurden gesund rot, mein Gesicht blieb krank.
    Ich wusch mich stehend am Waschbecken. Meinen Unterleib, meinen Oberkörper. Fortwährend wurde mir die Größe meiner Hand bewusst. Es war die Hand eines mürrischen, alten Weibes. Sie verwendete kaltes Wasser und trocknete mich mit einem harten Handtuch aus dem Schrank ab. Sie gab mir eine Zahnbürste, die mein Zahnfleisch nicht verschonte. Auch meine Zunge musste sauber werden. Sie war nicht schnell zufrieden.
    Ich holte die Pyjamahose unter dem Kissen hervor, legte die Jacke bereit, knotete das Band, das die Hose hielt, zusammen, maß mir das frisch gebügelte Gefühl von früher an. Es passte mir nicht. Ich war keine zehn und ich kam nicht gerade aus dem Bad und bekam keinen sauberen Pyjama angezogen und durfte auch nicht aufbleiben, bis mein Haar trocken war.
    Das Bett war gewarnt. Die Schachtel Hoggar Night lag bereit. Ich kam schlafen.
    Ich schlug das Laken und die Decke weg, sackte auf dem Rand des Bettes nieder und schaute von der Schachtel mit den Schlaftabletten zur Brieftasche auf dem Stuhl. Am liebsten hätte ich den Willen aufgebracht, den Arm in Richtung Pillen auszustrecken, aber es war die Brieftasche, die ich öffnete.
    Ich nahm die Mitgliedskarte heraus und hielt sie zwischen meinen beiden Händen hoch.
    „Hallo“, sagte ich zu dem Porträt. Ich spielte übertrieben, in dem Versuch, mich selbst lächerlich zu machen, doch mein Ton blieb ernst. Ich sagte, dass ich hoffte, dass es ihm gut gehe. Ich richtete meinen Rücken gerade, streckte den Zeigefinger und den Mittelfinger hoch, und verkündete, dass ich mich nicht mehr weiter mit seinem Unfall beschäftigen würde. Ich hörte mich selbst schwören und sogleich tat es mir auch leid. Ich rückte den Satz noch halbwegs zurecht mit: „bald“. Ich werde mich bald nicht mehr mit seinem Unfall beschäftigen.
    Dann entleerte ich die Brieftasche Fach für Fach.
    Ich betrachtete seine Karte der Raiffeisenbank. Seine blaue Saisonkarte fürs Schwimmbad. Ich las seine Adresse und vergaß sie nicht. Geidorfplatz 3. Ich kannte den Platz, ich kannte die Gegend. In einem Fach fand ich alte Konzerttickets. Eine rote Büroklammer hielt gebrauchte Kinokarten zusammen, natürlich vom Kunstkino – am Geidorfplatz. In einem Seitenfach steckte ein doppelt gefaltetes Ticket für eine Tanzvorstellung von Sasha Waltz, von dem ich noch nie gehört hatte. Auf der Rückseite des Tickets standen ein Name und eine Telefonnummer. Die Zahlen waren groß und gleichmäßig. Den Namen entzifferte ich als Kram. Daneben war ein lachendes Gesicht gezeichnet. In einer Plastikhülle fand ich den Ausweis, den man bekommt, wenn man Blut gespendet hat. Er hatte Blutgruppe 0+, so wie fast die Hälfte der Menschheit.
    Liebe fand er so gesehen gleich wichtig wie Blut. In derselben Hülle, hinter dem Ausweis versteckt, steckte ein Farbfoto. Sein Freund schaute mich an. Seine Freundin schaute mich an. Jochen Erhart stand zwischen

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