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Graz - Novelle

Graz - Novelle

Titel: Graz - Novelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luftschacht-Verlag <Wien>
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ihnen.
    Ich betrachtete die Freude von drei Menschen.
    Man sieht nicht oft Menschen, die froh miteinander sind. Ich wendete meine Augen ab. Es gibt Dinge, die ich gerne sehe, aber nicht lange betrachten kann. Ich zeigte, was ich noch weiter auf dem Foto sah. Ein Ast eines Apfelbaums, mit Äpfeln daran. Tibetanische Gebetsflaggen. Ein ansteigendes Feld, das wie eine grüne Mauer hinter ihnen stand. Das Sonnenlicht knallte so hart auf das Gras, dass es aussah, als ob es keinen Horizont gäbe. Auf der rechten Seite hing über dem Kopf des Mädchens ein Arm, und daneben sah man die Haarmähne einer tanzenden Frau.
    An Jochen zu denken war genauso anstrengend wie ihn anzusehen. Seine Augen hatten noch fast nichts von der Welt gesehen, aber gleichzeitig verrieten sie schon die Farbe der Traurigkeit, auch wenn sie froh waren. Während ich auf die Äpfel, die Flaggen, den Arm der tanzenden Frau zeigte, war ich mir die ganze Zeit hindurch bewusst, dass er in meiner Nähe war, mich ansah, und allein schon der Gedanke daran machte mich schwach.
    Ich war davon überzeugt, dass es schön sein musste, jemanden zu lieben, der Musik liebte oder Kinokarten aufbewahrte. War es wirklich wahr, dass man schwimmen nie verlernte, und wenn ja, konnte ich es noch, und konnten wir es zusammen? Mir wurde klar, dass noch nie jemand ein lachendes Gesicht neben meinen Namen gezeichnet hatte.
    Die Hülle mit der Blutgruppe und das Foto stopfte ich zurück an ihren Platz.
    Ich dachte an eine Frau, die ich im Fernsehen Abschied nehmen gesehen hatte. Sie küsste und heulte und sie küsste und heulte, Rotz und Wasser, bis langsam ihr ganzes Gesicht glänzte. „Auf Wiedersehen“, versuchte sie zu sagen, und das Publikum im Studio verstand sie, obwohl sie die Worte nicht mehr richtig aus der Kehle bekam. Sie vergingen vor Kummer, und der Mann, von dem sie sich verabschiedete, sagte schon zweimal zu ihr: „Was sagst du? Ich verstehe dich nicht. Was sagst du?“
    Das war bis jetzt der traurigste Abschied, den ich je gesehen hatte.
    Die Brieftasche legte ich auf meine Kleidung.
    Im Badezimmer füllte ich ein Glas mit Wasser und löschte das Licht.
    Danach blieb ich noch eine Zeitlang still im Dunkeln am Bettrand sitzen. Ich drückte die Handflächen aneinander, legte die Hände in den Schoß.
    Ich betete nicht.
    Ich bete nie.
    In der Küche summte der Kühlschrank.
    Aus dem Blister holte ich eine Schlaftablette und legte sie auf meine Zunge. Ich schluckte sie trocken hinunter. Eine zweite Pille brach ich mittendurch. Die eine Hälfte steckte ich in den Mund. Danach zog ich meine Schultern hoch und schluckte daraufhin auch die andere Hälfte. Das Glas Wasser trank ich leer. Ich tat so, als ob ich von der schnellen Wirkung der pflanzlichen Pillen überzeugt sei.
    Küssen und Heulen und Küssen und Heulen, dachte ich und ließ mich auf die Seite fallen. Die Beine hob ich träge auf das Bett. Den Kopf platzierte ich auf dem Kissen. Die Decke zog ich bis unters Kinn. Es dauerte lange, bis ich bequem lag. Ich glaube, ich war nicht mit meinem ganzen Körper bereit, die Nacht zu beginnen.
    Meine Mutter drehte sich um. Sie sagte: „Was hast du gegessen, Junge?“ und legte ihre Hand auf meine Brust. Sie sagte, dass ich nicht schlafen brauchte. Ich sollte mit dem Ausruhen beginnen.
    Ich sagte: „Ich weiß, Mutter“ und dankte ihr.
    „Nichts zu danken“, sagte sie. „Versuch an etwas Schönes zu denken.“
    Danach war sie wieder tot.
    Ich schloss meine Augen und dachte an etwas Schönes. Wahrscheinlich war das Foto dieses Glücks nur um mich zu ärgern in solch heftigen Farben ausgearbeitet worden. Der Freund, die Freundin und Jochen Erhart schrien zu dritt „Ja“ in die Kamera.
    Ja.
    So würde ich nie einschlafen.
    Ich legte mich auf die andere Seite, als ob ich die Dinge dann anders betrachten könnte. Ich kniff meine Augen zusammen, stellte mich schlafend, aber ich sah es doch: Sie hatten sofort nach der Aufnahme des Fotos vor, den Kopf nach hinten zu werfen und laut zu lachen.
    Er würde ihn anschauen. Sie würde ihn anschauen und es herrlich finden, dass er mit seinem Daumen den Schweiß von ihrer Oberlippe wischt. Sie würde das Gleiche bei ihm tun. Er würde seine Zähne auf ihren Daumen setzen. Sie würde matt „aua“ sagen. Danach würden sie einander küssen, und sie würde lachend dazwischensitzen und betteln: „Und ich? Und ich?“
    Ich war davon überzeugt, dass die drei nicht einfach so gerne zusammen waren, so wie zusammen in einem Raum

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