Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Graz - Novelle

Graz - Novelle

Titel: Graz - Novelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luftschacht-Verlag <Wien>
Vom Netzwerk:
die eine Zeitlang über uns gestülpt war, wurde entfernt. Die Kälte schlug zu. Der Wind zog an, der Schnee war zurück, die Stadt rings um mich.
    „Ich wohne noch zuhause“, sagte ich. „Mein Vater liest nichts, nicht einmal die Reklame. Ich habe keinen Partner.“ Meine Stimme war blechern. Ich dachte: Ich werde noch eine Frage stellen, und noch eine und noch eine, dann wird es nie still.
    Ich sagte: „Sind sie oft hier?“
    Die Frau sagte: „Was ist oft? Ich gehe einfach spazieren.“ „Ich auch“, sagte ich. „Wahrscheinlich habe ich so wie Sie öfter das Gefühl, dass ich tagelang an derselben Stelle stehe. Ich bin Apotheker. Hermann. Eichler. Sie finden mich an der Ecke der Leonhardtstraße und der Maiffredygasse.“ „Carla“, sagte die Frau. „Ich komme vorbei, wenn ich kränker werde. Das verspreche ich dir.“
    Ich sagte: „Ich werde mich an Ihr Versprechen erinnern, Carla“, und ich drehte mich um.
    „Hab ich dich beleidigt?“, fragte sie meinen Rücken.
    Mein Rücken hörte schlecht.
    Ich sagte: „Auf Wiedersehen“ und streckte eine Hand aus, die etwas anderes bedeutete.
    Noch keine drei Tage später stand Carla piepsend vor dem Verkaufspult in der Apotheke. Sie drängte sich nach vorne, immer nach vorne. Ich weiß nicht mehr, ob ich etwas sagte, oder was ich sagte. Ich weiß jedoch, dass ich ihr zunickte und sie mit dieser Kopfbewegung in mein Leben hineinließ.

Let’s get up. We’re goin’ north again!
    ALBEE

Ich dachte logisch nach. Wenn der Unfall hier vor der Türe passiert war, dann würden die Rettungsleute nicht auf die Idee kommen, den armen Jungen in das Krankenhaus West einzuliefern, wo Unfallopfer normalerweise hingebracht werden. Sie würden ihn auch nicht zu den Elisabethinen bringen, das war zu weit weg. Minuten waren kostbar, und jeder Kilometer weniger bedeutete gewonnene Zeit.
    Ich tippte auf das Landeskrankenhaus. Dieses Krankenhaus war in der Nähe und so groß wie eine Kaserne. Der Krankenwagen musste sowieso fliegen. Das Landeskrankenhaus zauberte Betten herbei, wo noch nie Betten gestanden hatten. Jochen Jonathan Erhart lag schon lange hinter einem Vorhang, und es wurde für ihn gesorgt. Im schlimmsten Fall brannte grelles Licht in einem weißen Raum. Dann waren das weniger gute Nachrichten, doch an einen dunklen Raum, wo er tot dalag, war das Letzte, woran ich denken wollte. Auf halbem Weg im Treppenhaus, das zur Apotheke führt, blieb ich stehen.
    Der Gedanke überfiel mich, dass es nicht undenkbar war, dass der Junge genau im Moment des Stromausfalls auf dem Operationstisch lag. Als mir diese Möglichkeit in den Sinn kam, brach die Welt zusammen.
    Ich riss mich zusammen und klammerte mich am Geländer fest, denn sonst würden meine Beine unter mir wegschlagen. Ich schaute nicht nach unten. Die Innentreppe ist steil und schmal. Hinsetzen konnte ich mich nicht, die Stufen waren nicht tief genug. Mir fiel nichts Besseres ein, als mich vorsichtig um meine Achse zu drehen und Schritt für Schritt, mit dem Gesicht zur Treppe, nach unten zu steigen.
    Ich versuchte, meinen Vater nicht vor mir zu sehen. In seinen letzten Monaten ist er ein paar Mal rückwärts die Treppe heruntergekommen, obwohl er gar nicht in der Apotheke hätte sein müssen. In seinen letzten Monaten hat er sich oft in seinem eigenen Haus verirrt. Das ist für die Kunden unangenehm gewesen. Jemanden, der sein Leben lang zu einem gesagt hat, dass alles gut wird, will man nicht herumirren sehen.
    Unten an der Treppe legte ich die Hände auf den Kopf. Durch das Anfassen meines Kopfes und das tiefe Ein- und Ausatmen hoffte ich mich zu beruhigen.
    Hier bin ich, hier bin ich.
    Ich fuhr mit den Händen über mein Gesicht, strich mein Haar straff zurück, bis es wehtat, doch ich bekam die Gedanken in den grauen Zellen nicht in Ordnung. Ich bekam über Nacht da oben nie alles blitzsauber. Meine Gedanken sind wie der Fußboden in der Apotheke. Alle Reinigungsfrauen verfluchen ihn. Sie bleiben auch nie lange. Auf ein paar Streifen Parkett folgen Fliesen mit ziseliertem Chrysanthemenmuster. Mein Großvater hatte sie für sein modernes Geschäft ausgesucht, jetzt bieten Antiquitätenhändler eine Menge Geld dafür. Reinigungsfrauen macht er aggressiv. Der Boden kann geschrubbt, jedoch nicht gewischt werden, die Seifenlauge und der Schaum bleiben in den Wölbungen hängen, der Schmutz sammelt sich darin.
    „Herr Eichler“, sagen sie, während sie zum Boden zeigen. „Das ist verlorene

Weitere Kostenlose Bücher