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Grazie

Grazie

Titel: Grazie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chelsea Cain
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wenigen Orte im Gefängnis, an dem es keine Überwachungskameras gab.
Es war ein langer, schmaler Raum, der nun voller Leute war. Sie standen
nahe, jedoch nicht zu nahe bei dem leblosen Körper, der von einem
Abflussrohr an der Decke hing.
    »Er heißt B.D. Cavanaugh«, sagte der Gefängnisdirektor zu
Archie. »Er war seit neun Jahren hier. Keinerlei Verfehlungen in dieser
Zeit.«
    Sich zu erhängen war die zweitbeliebteste Selbstmordart in den
Vereinigten Staaten. Nur sich erschießen war beliebter. Archie verstand
nicht, was den Reiz ausmachte. Es war zu schwer zu steuern. Sicher,
wenn man Glück hatte, brach man sich das Genick und war im Nu tot. Und
selbst ohne Bruch konnte das Abschnüren der Halsschlagader oder ein
Zusammenbruch des Nervus vagus zu einem relativ friedlichen Tod führen.
Rasche Bewusstlosigkeit, gefolgt von einer massiven Koronarthrombose.
Hatte man jedoch Pech, dann brach das Genick nicht und die
Halsschlagadern pumpten weiter, bis man einen langsamen, qualvollen Tod
durch Strangulation starb.
    Der Wärter hatte kein Glück gehabt. Sein Gesicht war
aufgedunsen und verfärbt, die Augen blutunterlaufen, die Zunge quoll
zwischen blauen Lippen hervor, und eine Spur Urin lief an seiner
braunen Uniformhose hinunter und sammelte sich, wo sein Zeh den
Teppichboden berührte.
    »Ist das der Kerl, der Gretchen angefallen hat?«, fragte
Archie.
    Im Raum roch es schwach nach Urin und Fäkalien, vermischt mit
dem stechenden Mottenkugelaroma von rosa Urinal-Tabs.
    »Er hatte Zugang«, sagte der Direktor. »Er arbeitete letzte
Nacht in der entsprechenden Schicht. Und schauen Sie auf seine Hände.«
    Die Fingerspitzen des Wärters waren blau und seine Unterarme
von einem Netz feiner, roter Kratzer überzogen.
    Der Blick des Direktors ging zu der Stelle, wo sich die
Erektion des Wärters durch die Hose abzeichnete. Er räusperte sich.
»Haben Sie so etwas schon mal gesehen?«
    »Es wird dadurch verursacht, dass sich Blut in der unteren
Körperhälfte sammelt«, sagte Archie nüchtern. »Das Gewebe dehnt sich
auf ein Maximum aus. Es geht zurück, sobald er horizontal liegt.«
    »Es ist also gar keine Latte?«
    »Lassen Sie einen Penisabstrich machen«, sagte Archie. »Ich
brauche eine DNA zum Abgleich mit dem gefundenen Samen.«
    Archie hatte sich nicht überlegt, was er empfinden würde, wenn
er sich Gretchens Angreifer gegenübersah. Aber dieser baumelnde
Leichnam löste kein Gefühl der Befriedigung in ihm aus. Weil er ihn
nicht gegen die Wand werfen durfte? Ihn nicht verhaften konnte? Weil er
nicht Gretchens weißer Ritter sein durfte?
    Archie konnte ein Gefühl der Verantwortung für das, was
passiert war, nicht abschütteln. Gretchen saß nicht im Frauengefängnis
ein. Sie war im Isolationstrakt untergebracht, der sich im Männerteil
der Anlage befand, weshalb ihre Wärter hauptsächlich Männer waren.
Gretchen war schlank, aber sie war gefährlich. Sie hatte hundert
verschiedene Wege gefunden, Menschen zu töten. Doch der Wärter war
stark gewesen, er wog mindestens hundertzwanzig Kilo, und Archie konnte
sich durchaus vorstellen, dass er sie überwältigt hatte.
    »Er hatte sie in einem Würgegriff«, sagte der Direktor. »Hat
ihr das Schlüsselbein angebrochen. Der Arzt meint, sie dürfte die
meiste Zeit bewusstlos gewesen sein.«
    »Großer Gott«, sagte Archie.
    »Und dann bringt er sich selbst um?«, stieß Henry aus und
schnaubte höhnisch. »Wie praktisch.« Archie warf ihm einen Blick zu.
»Was?«, fauchte Henry. »Traust du ihr etwa nicht zu, dass sie das alles
eingefädelt hat?«
    »Sie ist ein Opfer, solange nichts anderes erwiesen ist.«
    Henry stieß das Kinn in Richtung des Toten. »Kürzlich
geschieden?«, fragte er den Direktor.
    Der Direktor nickte. »Seine Frau hat ihn letztes Jahr
verlassen.«
    Henry sah Archie an. »Passt in ihr Profil.«
    Gretchen fahndete per Internet nach einsamen Männern, die sie
manipulieren konnte.
    Sie reiste eine Weile mit ihnen umher, brachte sie dazu, für
sie zu töten, und exekutierte sie dann. Sie hatte es schon mindestens
drei Mal getan. Es war nicht gänzlich auszuschließen, dass sie diesen
Mann irgendwie davon überzeugt hatte, für sie zu sterben –
oder wegen ihr. »Hat er eine Nachricht hinterlassen?«
    Der Direktor wies mit dem Kopf in Richtung Waschraum, der
direkt hinter dem Umkleideraum lag. Archie und Henry folgten ihm
hinein. Es gab zwei Duschen, drei Toilettenkabinen, eine Reihe Urinale
und zwei Waschbecken, und über diesen einen Spiegel,

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