Green, Simon R. - Todtsteltzers Erbe
bewegte. Sie drückten sich
heftig aneinander, hielten sich fest umklammert, als
könnte jemand anderes sie auseinander reißen, und
sie küssten sich mit der Leidenschaft eines ganzen
Lebens.
Als sie sich schließlich voneinander lösten, rangen
sie nach Luft. Lewis versuchte etwas zu sagen und
schaffte es nicht. Er wandte den Kopf zur Seite, und
Jesamine verstärkte ihren Griff an ihm. Lewis sah sie
wieder an, und ihre Augen hefteten sich erneut inein
ander. Beide zitterten.
»Wir können das nicht tun«, sagte Lewis. »Es geht
einfach nicht! Es ist falsch. Douglas ist mein
Freund!«
»Verdammt«, sagte Jesamine. »Er ist mein Ver
lobter. Ich werde ihn heiraten.«
»Liebst du ihn?«
»Ja. Nein. Ich weiß es nicht! Es ist kompliziert.«
»Nicht für mich«, sagte Lewis.
Letztlich fand Jesamine, immer die Praktische, als
Erste die Kraft loszulassen. Sie legte die Hände auf
Lewis gepanzerte Brust und schob ihn weg, und er
stolperte leicht, als hätte sie ihn geschlagen. Sie hätte
ihn jedoch nicht wegdrücken können, ohne dass er es
zuließ, und sie beide wussten es. Sie starrten sich
weiterhin in die Augen. Sie atmeten weiter schwer.
Beider Hände zitterten an den Seiten, als versuchten
sie verzweifelt, wieder den anderen zu ergreifen.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte Lewis
schließlich. »Ich habe noch nie so etwas empfun
den.«
»Nie?«, fragte Jesamine. »Warst du noch nie ver
liebt?«
»Nein«, sagte Lewis. »Es gab immer nur mich.
Und Douglas.«
»Still«, sagte Jesamine und berührte seine Lippen
mit den Fingerspitzen.
Lewis wandte den Kopf. Er blickte durch die Tee
stube und entdeckte in diesem Augenblick Anne
Barclay, die dort stand und ihn und Jesamine be
trachtete. Und Lewis konnte von ihrem Gesicht able
sen, dass sie schon. eine Zeit lang zusah.
»Anne?«, fragte er, obwohl seine Stimme sich gar
nicht nach ihm anhörte. »Was machst du denn hier?«
Jesamine drehte sich scharf um und erblickte Anne
ebenfalls, aber abgesehen davon, dass ihre Augen ein
wenig größer wurden, verriet sie nichts.
»Was ich hier mache?«, fragte Anne und näherte
sich den beiden mit der Unausweichlichkeit des
Schicksals. »Man sollte wohl eher fragen: Was zum
Teufel treibt ihr denn da? Nein, sag nichts, Lewis.
Was immer du gerade sagen wolltest, es wäre nur
eine Lüge gewesen, und das konntest du noch nie
gut. Und ich habe wirklich weder die Zeit noch die
Geduld, um hier herumzustehen und dir beim Her
umstottern zuzuhören. Ich habe euch gesucht. Ihr
werdet im Parlament gebraucht, alle beide. Douglas
hat eine Notfallsitzung des Hohen Hauses anberaumt
und wird jede Unterstützung brauchen, die er nur
kriegen kann.
Ihr habt vielleicht den Aufruhr draußen mitbe
kommen, wenn ihr nicht gerade darin vertieft wart,
gegenseitig eure Gesichter aufzufressen. Nun, dieser
Marsch ist nur einer von sieben – alle gleich groß,
gleich wütend und gleich entschlossen. Alle sind auf
direktem Weg zum Parlament, und absolut niemand
denkt, dass sie dort eine Petition einreichen möchten.
Eine echt üble Stimmung liegt in der Luft, Lewis.
Wir haben sämtliche Friedenshüter der Stadt zusam
mengetrommelt, aber wir können uns eine offene
Konfrontation nicht erlauben. Die Kirche hat sehr
deutlich gemacht, dass sie sich weder aufhalten noch
ablenken lässt. Sollten wir auch nur versuchen, Bar
rikaden zu errichten, werden sie das als Ausrede be
nutzen, um mit allem zuzuschlagen, was sie haben.
Falls wir nicht den richtigen Weg finden, die Atmo
sphäre zu entschärfen … wird alles bitter enden. Ga
rantiert. Setzt jetzt eure Hintern in Bewegung, alle
beide. Ich halte eine Gravobarke hinter dem Laden
bereit.«
Jesamine nickte nur und ging zur Garderobe, um
sich ihren Pelzmantel zu holen. Sie ging erhobenen
Hauptes direkt an Anne vorbei. Sie hatte nach wie
vor nichts gesagt, und Lewis konnte nur bewundern,
welche Würde sie unter Druck an den Tag legte. Er
spürte, wie ihm selbst die Hitze in die Wangen stieg,
und er wusste nicht, was er mit den Händen anstellen
sollte. Anne und er starrten einander an, bis Jesamine
mit dem Mantel zurückkehrte, nachdem sie ihre Si
cherheitsleute entlassen hatte. Sie begab sich mit ru
higer und gefasster Miene zur Rückseite der Teestu
be, als wäre sie um nichts in der Welt besorgt. Anne
funkelte Lewis an, und er zuckte fast zusammen.
»Wie konntest du nur?«, wollte sie wissen, und sie
schlug dabei einen so tiefen Ton an, dass es fast wie
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