Green, Simon R. - Todtsteltzers Erbe
der Neumenschen zu Eigen machte. Ein
Erlöser der Menschen, ein Imperium der Menschen,
eine Zukunft der Menschen. Niemand sonst braucht
sich um Teilnahme zu bewerben. Noch ist es nicht
die Sicht der Mehrheit, bei weitem noch nicht, aber
viele Leute hören ihnen zu. Und die Gegenseite ist
zersplittert. Sie bringt nicht mehr zustande, als bei
diesen Demonstrationen zu erscheinen und mit Be
schimpfungen und Sachen zu werfen, was nur die
Leidenschaften auf beiden Seiten anstachelt. Wir
könnten hier mit echten Schwierigkeiten konfrontiert
sein.«
»Ich verstehe trotzdem nicht, warum sich die Kir
che so unvermittelt gegen die Fremdwesen gestellt
hat«, sagte Jesamine.
»Ich kann es erklären, aber erwartet nicht, dass es
Sinn ergibt«, sagte Lewis, der den Blick nach wie
vor nicht von den Demonstranten wandte. »Die Kir
che dreht sich ganz um das Thema der Transzendenz,
richtig? Sie hat jetzt entschieden, dass, weil nur
Menschen sich durch das Labyrinth des Wahnsinns
transzendieren können, der Beweis erbracht ist, dass
Fremdwesen minderwertig sind, nur dazu geeignet,
von der Menschheit, die ihnen von Natur aus überle
gen ist, geführt zu werden, sprich beherrscht. Natür
lich zu ihrem eigenen Wohl. Immer, wenn Leute
Macht über andere erstreben, ist es immer zum Wohl
dieser anderen. Im Wesentlichen möchten die Neu
menschen zur guten alten Zeit des Imperiums zu
rückkehren, als die Fremdwesen noch ihren Platz
kannten. Als Sklaven oder Leichen. Die neue Part
nerschaft mit der Kirche gibt der Sache der Reinen
Menschheit den Anstrich der Ehrbarkeit. Falls die
Staatskirche des Imperiums ihre Überzeugungen ak
zeptiert, muss etwas daran sein. Menschen, die vor
her nicht zuhören wollten, tun es jetzt. Und viel zu
viele glauben nun auch daran.«
»Aber es liegt erst wenige Wochen zurück, dass
diese Leute versucht haben, den König mit einer
Verwandlungsbombe zu töten!«
»Die Kirche und die Neumenschen haben den At
tentäter verstoßen. Offenkundig ein einsamer Ver
rückter. Der arme Mistkerl ist für nichts gestorben.
Die Sache hat jetzt einen neuen Sprecher: den Engel
von Madraguda.«
»Ich habe ihn noch nie leiden können«, sagte Je
samine sofort. »Bin ihm einmal auf einer Wohltätig
keitsparty begegnet. Er hatte schweißige Hände und
Schweinsäuglein und hat ständig auf meine Brüste
gestarrt, während er mit mir redete. Geredet hat er
viel, aber im Grunde nichts gesagt. Ich bin diesem
Schlag schon früher über den Weg gelaufen. Nimmt,
was er kriegen kann, der Typ. Ich wusste jedoch
noch gar nicht, dass er politischen Ehrgeiz oder ent
sprechende Verbindungen hatte …«
»Nun, jetzt hat er sie«, sagte Lewis. »Tatsächlich
ist er jetzt wichtiger denn je. Man kann den Video
schirm nicht einschalten, ohne ihn gleich zu sehen,
wie er mit seiner ruhigen und vernünftigen Stimme
schreckliche und abscheuliche Dinge sagt. Das
Schlimme ist nur, dass er sagt, was viele Menschen
hören möchten – dass sie besser sind als die
Fremdwesen. Und dass sie ein Recht haben, die
Dinge zu ändern, notfalls mit Gewalt … Das Einzi
ge, was gefährlicher ist als ein wütender Pöbel, ist
ein wütender Pöbel mit einem Programm. Das da
draußen ist nicht nur eine Demonstration; sie sind
irgendwohin unterwegs. Ich denke, ich rufe lie
ber …«
Jesamine schauderte es. »Ich hoffe nur, dass gera
de keine Fremdwesen auf der Straße unterwegs sind
… falls die Lage außer Kontrolle gerät …«
Sie standen Schulter an Schulter vor dem Panzer
glasfenster und verfolgten die Demonstration. Sie
schien kein Ende zu nehmen; Hunderte und Aber
hunderte von Männern und Frauen mit kalten Ge
sichtern, die ihre grausigen Lehren mit rauer, wüten
der Stimme brüllten. Jesamine zitterte wieder, und
Lewis legte ihr den Arm um die Schultern. Und dann
wandte er sich ihr langsam zu, fast unwillkürlich,
und sie wandte sich ihm entgegen. Ihre Gesichter
waren einander jetzt ganz nahe und kamen sich jeden
Augenblick näher, bis jeder den Atem des anderen
auf den Lippen spürte. Sie blickten sich in die Augen
und konnten sich nicht abwenden, während die zor
nigen Leidenschaften draußen irgendwie die schlich
te, geteilte Leidenschaft drinnen nährten. Beider
Atem ging schneller, wurde tiefer und schwerer. Ihre
Augen hingen gebannt aneinander und sprachen alles
aus, was sie nicht gesagt hatten, während sie noch
am Tisch saßen. Letztlich kam es gar nicht mehr dar
auf an, wer sich zuerst
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