Green, Simon R. - Todtsteltzers Erbe
nächsten Gestalt war nichts zu deuteln. Das
auf unterschwellige Weise nichtmenschliche Gesicht,
die leuchtenden goldenen Augen. Der Kyborg, der
aufgerüstete Mensch, der alte Feind der Menschheit,
die Menschmaschine mit dem Kainsmal auf der
Stirn. Der Hadenmann Tobias Mond. Er sah nach gar
nichts Besonderem aus, bis man sich seinen Zügen
und den Augen zuwandte. Nur in sie hineinzusehen,
dabei sträubten sich Lewis schon die Nackenhaare.
Seit Jahrhunderten hatte niemand mehr einen Kyborg
hergestellt, und der Grund lag ausschließlich in dem,
was die Hadenmänner zu ihrer Zeit angerichtet hat
ten. Obwohl es sie schon lange nicht mehr gab, dien
ten sie weiterhin als die Butzemänner der modernen
Zeit, der Stoff, aus dem die Albträume waren, und die
Schurken von tausend Video-Abenteuerserien. Auf
sässigen Kindern sagte man, sie sollten ins Bett ge
hen, oder die Hadenmänner würden sie holen. Tobias
Mond war der Letzte dieses Volkes und nur eine klei
ne Legende, an die man sich kaum erinnerte, und man
ließ ihn aus den offiziellen Versionen ganz heraus,
weil seine Präsenz einfach zu beunruhigend wirkte.
Robert und Konstanze hatten nicht gewollt, dass
die Menschheit von der Mitwirkung eines Haden
mannes an der Freiheit erfuhr, die sie heute genoss.
»Tobias Mond«, sagte die Flüsterstimme. »Der
Hadenmann, der gestorben und ins Leben zurückge
kehrt ist. Der Kyborg, der sich vom eigenen Volk
distanzierte, um Owens Freund und Bundesgenosse
zu werden. Der sich so darum bemühte, in sich selbst
das Menschliche zu finden. Vielleicht der einzige
Überlebende all derer, die das Labyrinth des Wahn
sinns durchschritten haben. Es heißt, man träfe ihn
nach wie vor in der früheren Leprakolonie an, die tief
im intelligenten Dschungel von Lachrymae Christi
liegt. Inzwischen seit zweihundert Jahren ein Ein
siedler; und er ist der einzige Weg, auf dem die Ko
lonisten jenes Planeten mit dem lebendigen Bewusst
sein der Welt sprechen können, dem Roten Gehirn.
Menschen jedoch, die ohne guten Grund nach Tobias
Mond suchen, kehren oft nie zurück.«
»Also gibt es ihn wirklich«, sagte Lewis. »Ich hat
te mich oft gefragt. Man findet so viele Versionen
der Geschichte, besonders wenn man wirklich da
nach gräbt, und dazu kommen so viele inoffizielle
Varianten. Und es erschien einem auch nicht als
wahrscheinlich: ein Hadenmann, der für die
Menschheit kämpfte!«
Jesamine nickte. »Mir läuft es kalt den Rücken
herunter, wenn ich ihn nur anblicke. Warum muss
ausgerechnet diese Version der Legende stimmen?
Ich ziehe stark die Version vor, in der Owen eine
Armee von Drachen erweckt, um gegen die Neuge
schaffenen zu kämpfen.«
»Nein«, entgegnete der graue Mann. »Das waren
Carrion und die Ashrai.«
Lewis und Jesamine sahen ihn an.
»Wer?«, fragte Lewis.
»Was?«, fragte Jesamine.
Die nächste Gestalt auf dem Bildschirm zeigte ein
besser bekanntes Gesicht: ein großer, schmaler
Mann, der in der Taille allmählich zulegte und des
sen Haare auf dem Rückzug waren; er steckte in der
altmodischen Uniform eines Kapitäns der Imperialen
Raumflotte. Er wirkte befehlsgewohnt. Lewis er
kannte ihn aufgrund der Szenen wieder, die ihm
Shub gezeigt hatte.
»Kapitän Johan Schwejksam«, erzählte der graue
Mann. »Er hat gemeinsam mit König Robert und
Königin Konstanze dazu beigetragen, das goldene
Zeitalter zu begründen, auch wenn er mit der Er
schaffung der Mythen nicht einverstanden war. Er
verschwand vor etwas über hundert Jahren aus dem
Blickfeld der Öffentlichkeit, als die Leute damals
anfingen, seine Standbilder zu verehren. Der Schat
tenhof hetzte eine ganze Armee auf sein isoliertes
Landhaus und brannte es nieder, während Schwejk
sam sich dort aufhielt. Man fand nicht mehr genug
von seiner Leiche für eine Beerdigung, aber man
sammelte etwas von der Asche ein und verstreute sie
im Siegesgarten von Parade der Endlosen. Schwejk
sam gehörte zu den wenigen Offizieren, die der Im
peratorin Löwenstein bis zum Ende treu dienten und
später trotzdem vom Volk gefeiert wurden, weil er
sich so heldenhaft gegen Shub und die Neugeschaf
fenen geschlagen hatte. Er durchschritt das Labyrinth
des Wahnsinns, erzählte man, aber falls er dort ir
gendwelche Kräfte oder Fähigkeiten erlangte, so hat
er sie nie demonstriert. Es heißt auch, er hätte einen
Investigator geliebt.«
»Armer Kerl«, fand Jesamine. »Der Legende zu
folge waren die noch unmenschlicher als die Hadenmänner.«
Eine Pause
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