Gregor und der Schlüssel zur Macht
sie leer war. Im Kühlschrank fand er eine Packung Milch, eine Jumboflasche Apfelsaft, in der vielleicht noch ein Glas war, und eine Tube Senf. Gregor machte sich auf das Schlimmste gefasst, als er den Küchenschrank öffnete. Ein halbes Brot, ein bisschen Erdnussbutter und eine Packung Haferbrei. Er schüttelte die Packung und seufzte erleichtert. Sie hatten genug fürs Frühstück und fürs Mittagessen. Und da heute Samstag war, brauchte Gregor noch nicht mal zu Hause zu essen. Er würde zu Mrs Cormaci rübergehen und ihr helfen.
Mrs Cormaci. Es war schon komisch, wie sie sich in nur wenigen Monaten von der neugierigen Nachbarin in einenrettenden Engel verwandelt hatte. Kurz nachdem Gregor mit seinem Vater und Boots aus dem Unterland zurückgekehrt war, lief er ihr im Hausflur in die Arme.
»Na, was hast du getrieben?«, fragte sie ihn. »Außer das ganze Haus in Angst und Schrecken zu versetzen.« Gregor hatte ihr die Geschichte aufgetischt, auf die er sich mit seinen Eltern geeinigt hatte: An dem Tag seines Verschwindens war er mit Boots für ein paar Minuten auf den Spielplatz gegangen. Sie hatten seinen Vater getroffen, der gerade einen kranken Onkel in Virginia besuchen und die Kinder mitnehmen wollte. Gregor dachte, sein Vater hätte die Mutter angerufen, und sein Vater dachte, Gregor hätte sie angerufen, und erst als sie zurückkamen, erfuhren sie, was sie angerichtet hatten.
»Hm«, machte Mrs Cormaci und sah ihn streng an. »Ich dachte, dein Vater lebt in Kalifornien.«
»Da hat er auch gelebt«, sagte Gregor. »Aber jetzt wohnt er wieder bei uns.«
»Aha«, sagte Mrs Cormaci. »Das ist also deine Geschichte?«
Gregor nickte. Er wusste, wie unglaubwürdig sich das anhörte.
»Hm«, machte Mrs Cormaci wieder. »Also, ich an deiner Stelle würde da noch dran arbeiten.« Und damit ließ sie ihn stehen.
Gregor dachte, sie wäre wütend, aber ein paar Tage darauf klopfte es und sie stand mit einem Kuchen vor derTür. »Der ist für deinen Vater«, sagte sie. »Ein kleiner Willkommensgruß. Ist er zu Hause?«
Gregor wollte sie gar nicht reinlassen, doch sein Vater rief gewollt fröhlich: »Ist das Mrs Cormaci?«, und da kam sie mit ihrem Kuchen direkt hereingestürmt. Beim Anblick von Gregors Vater, wie er, klapperdürr und grauhaarig, gebeugt auf dem Sofa saß, verstummte sie jäh. Falls sie vorgehabt hatte ihn auszufragen, verwarf sie das auf der Stelle. Stattdessen plauderte sie ein wenig mit ihm übers Wetter und ging dann wieder.
Ein paar Wochen nachdem die Schule wieder angefangen hatte, kam seine Mutter dann eines Abends nach Hause und sagte: »Mrs Cormaci hat einen Job für dich. Sie möchte, dass du ihr jeden Samstag ein bisschen hilfst.«
»Ich soll ihr helfen?«, fragte Gregor argwöhnisch. »Wobei?« Er hatte keine Lust, Mrs Cormaci zu helfen. Sie würde ihm lauter Fragen stellen, und wahrscheinlich wollte sie ihm mit ihren Tarotkarten die Zukunft voraussagen und …
»Ich weiß nicht. In ihrer Wohnung. Du musst nicht, wenn du nicht willst. Aber ich dachte, du freust dich vielleicht, wenn du dir ein bisschen Taschengeld verdienen kannst«, sagte seine Mutter.
Und da wusste Gregor, dass er es machen würde, aber nicht um sich Taschengeld für Kino, Comics und so weiter zu verdienen. Er würde es für die Familie tun. Denn obwohl sein Vater zu Hause war, konnte er noch lange nichtwieder als Naturkundelehrer arbeiten. Er hatte die Wohnung erst ein paarmal verlassen, um zum Arzt zu gehen. Die sechsköpfige Familie lebte von dem Geld, das Gregors Mutter nach Hause brachte. Für die Arztrechnungen, Schulausgaben, Kleidung, Essen, Miete und was man sonst noch alles zum Leben brauchte, reichte es vorn und hinten nicht.
»Um wie viel Uhr soll ich bei ihr sein?«, fragte Gregor.
»Sie sagte, zehn Uhr wäre gut«, sagte seine Mutter.
An diesem ersten Samstag vor ein paar Monaten war auch nicht besonders viel zu essen in der Wohnung gewesen, also hatte Gregor nur ein paar Gläser Wasser getrunken und war dann zu Mrs Cormaci rübergegangen. Als sie ihm öffnete, wurde er von einem himmlischen Duft aus der Küche überwältigt, das Wasser lief ihm im Mund zusammen und er musste erst mal schlucken, bevor er guten Tag sagen konnte.
»Ah, gut, dass du da bist«, sagte Mrs Cormaci. »Komm mit.«
Unsicher folgte Gregor ihr in die Küche. Auf dem Herd stand ein riesiger Topf mit blubbernder Soße. In einem anderen Topf waren Lasagnenudeln. Auf der Anrichte türmten sich verschiedene Gemüse. »Heute
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