Gregor und der Spiegel der Wahrheit
Hand.
»Macht es dir echt nichts aus? Hier ist mein Einsatz.«
Als ob er das nicht wüsste! Gregor und ihr gemeinsamer Freund Larry hörten Angelina schon seit sechs Wochen täglich ab. Meistens machte es allerdings Gregor. Durch die kalte, trockene Winterluft wurde Larrys Asthma schlimmer, und beim Vorlesen musste er immer husten. Letzte Woche war er mit einem heftigen Anfall im Krankenhaus gewesen. Er sah immer noch ziemlich mitgenommen aus.
»Das bringt sowieso nichts. Wenn du auf der Bühne stehst, hast du alles vergessen«, sagte Larry, ohne aufzuschauen. Er malte etwas auf seine Serviette, das aussah wie der Augapfel einer Fliege.
»Sag das nicht!«, rief Angelina erschrocken.
»Du versagst bestimmt total, genau wie beim letzten Stück«, sagte Larry.
»Ja, da wären wir fast rausgegangen«, sagte Gregor.
Angelina war im letzten Stück großartig gewesen. Das wussten sie alle. Sie versuchte sich ihre Freude nicht anmerken zu lassen.
»Was warst du noch mal? Irgend so ein Insekt, oder?«, fragte Gregor.
»Irgendwas mit Flügeln«, sagte Larry.
Sie hatte die gute Fee in einer nach New York verlegten Fassung von »Aschenputtel« gespielt.
»Können wir jetzt mal anfangen?«, fragte Angelina. »Damit ich mich heute Abend nicht bis auf die Knochen blamiere?«
Gregor hörte sie ab. Es machte ihm nichts aus. Es lenkte ihn von den düsteren Gedanken ab.
Ich darf nicht ständig ans Unterland denken, sagte er sich. Sonst mache ich mich nur verrückt.
Und den restlichen Tag über schlug er sich auch ganz gut. Er brachte den Unterricht hinter sich, holte Lizzie ab und ging dann zu Larry. Larrys Mutter bestellte zur Feier des Tages Essen beim Chinesen, und dann gingen sie zurSchule und schauten sich das Stück an. Es war toll, und das Beste daran war Angelina. Als Gregor nach Hause kam, brachte er seinen Schwestern eine Handvoll Glückskekse mit, die er vom Abendessen aufgehoben hatte. Boots hatte noch nie Glückskekse gesehen und versuchte sie mitsamt dem Papier zu essen.
Weil es zu kalt war, um irgendwas anderes zu machen, gingen sie früher ins Bett als sonst. Gregor nahm zusätzlich zu dem Stapel Decken noch seinen Mantel und ein paar Handtücher zum Zudecken. Seine Mutter und sein Vater kamen beide zu ihm ins Zimmer und sagten ihm Gute Nacht. Er fühlte sich geborgen. Jahrelang war sein Vater entweder nicht da gewesen oder zu krank, um in Gregors Zimmer zu kommen. Dass sie jetzt beide kamen und ihn zudeckten, war der reine Luxus.
Er hielt sich gut und dachte nicht ans Unterland, bis sein Vater ihn umarmte und ihm Gute Nacht wünschte und ihm, für die Mutter unhörbar, ins Ohr flüsterte: »Keine Post.«
Gregor und sein Vater hatten ein System ausgeklügelt. Im letzten Sommer hatte Gregors Mutter den Wäschekeller für tabu erklärt. Man konnte es ihr nicht verdenken. In den letzten Jahren waren erst ihr Mann und dann Gregor und Boots durch den Schacht im Wäschekeller gefallen, der ins Unterland führte. Sie hatte eine schreckliche Zeit durchgemacht. Wie es ihr gelungen war, dass die Familie das Ganze seelisch und finanziell überstanden hatte, war Gregor ein Rätsel geblieben. Seine Mutter war unglaublich. Es standalso außer Frage, dass er, was den Wäschekeller anging, nicht widersprach.
Das Problem war nur, dass er jetzt nicht im Schacht nachschauen konnte, der ins Unterland führte. Aber sein Vater wusste, wie ungeduldig Gregor auf Nachricht von Luxa und den anderen wartete, deshalb sah er jeden Tag einmal schnell im Wäschekeller nach. Gregors Mutter erzählten sie nichts davon, sie würde sich nur aufregen. Sie konnte das nicht verstehen. Sie war noch nie im Unterland gewesen. In ihrer Vorstellung waren alle, die dort lebten, irgendwie in die Entführung ihres Mannes und ihrer Kinder verwickelt. Gregor und sein Vater dagegen hatten Freunde dort unten.
Es gab also keine Post. Schon wieder kein Wort. Keine Antworten. Stundenlang starrte Gregor in die Dunkelheit, und als er endlich einschlief, träumte er unruhig.
Am nächsten Morgen wachte er spät auf und musste sich beeilen, weil er um zehn bei Mrs Cormaci sein sollte. Er ging jeden Samstag zu ihr und half ihr im Haushalt. Im Herbst hatte Gregor sie manchmal in Verdacht gehabt, dass sie sich extra Arbeit für ihn ausdachte, weil sie wusste, wie bitter nötig seine Familie das Geld hatte. Aber jetzt, bei dem schlechten Wetter, brauchte sie seine Hilfe wirklich. Bei der Kälte taten ihr die Gelenke weh, und es fiel ihr schwer, auf den
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