Gregor und der Spiegel der Wahrheit
»Achtung!«, rief er und warf ihn zurück zur Lichtung. In diesem Moment sah er sie aus dem Augenwinkel. Reglos saß sie hoch über ihm in den Lianen. Sie musste ihn die ganze Zeit beobachtet haben.
Während er sprach, fummelte er an einem hervorstehenden Stück Fingernagel herum, das ihn störte. »Du hättest also einfach dagestanden und zugeguckt, wie ich sterbe.«
»Ich dachte, du wolltest zusammen mit Ripred die Huscher angreifen«, sagte Luxa. Nichts Entschuldigendes lag in ihrem Ton.
»Wie kommst du auf so eine Idee?«, fragte Gregor.
»Die Ratten haben die Huscher immer gehasst, weil sie gute Beziehungen zu den Menschen pflegen. Im letzten Krieg kämpften die Huscher auf unserer Seite. Da trieben die Ratten sie in den Dschungel, in der Hoffnung, sie würden verhungern und von Raubtieren gefressen werden. Doch die Huscher sind stärker, als die Ratten glauben«, sagte Luxa.
»Das hätte vielleicht eine Erklärung dafür sein können, dass die Ratten hier sind. Aber was ist mit mir?«, sagte Gregor.
»Du hast die weiße Ratte nicht getötet«, sagte Luxa. »Als ich dich mit den beiden Ratten im Dschungel sah, musste ich annehmen, dass du auf ihre Seite übergewechselt bist.«
»Ich geb’s zu, jetzt hast du mich erwischt. Ripred undich haben uns zusammengetan, und jetzt erobern wir das Unterland und machen halbe-halbe. Du weißt ja, dass es schon immer mein Traum war, für immer hier unten zu bleiben.« Gregor biss das Stück vom Fingernagel ab und spuckte es wütend ins Gestrüpp. »Mensch, Luxa.« Immer wenn er hier war, wollte er vor allem eins: wohlbehalten zurück zu seiner Familie. Das wusste sie sehr gut. Die Idee, er könnte mit Ripred eine Verschwörung geplant haben, war einfach lächerlich.
»Spotte du nur. Etwas ganz Ähnliches hatte Henry auch vor«, sagte Luxa.
Henry. Er war ihr Cousin und gleichzeitig ihr bester Freund gewesen, und er hatte sie an die Ratten verraten – für einen aberwitzigen Plan, der sie beide zusammen mit den Ratten an die Macht bringen sollte. Gregor musste zugeben, dass Luxa allen Grund hatte, misstrauisch zu sein. Aber trotzdem.
»Ich bin nicht Henry«, sagte er. Er seufzte, weil es offenbar unmöglich war, Luxas Vertrauen zu gewinnen. Wahrscheinlich war ihre Fledermaus die Einzige, der sie vertraute. Falls die noch lebte. »Was ist mit Aurora?«
»Sie ist verletzt«, sagte Luxa.
Das war eine Erleichterung. Wenigstens war Aurora nicht getötet worden. »Was hat sie?«, fragte Gregor.
»Es ist ihr Flügel. Er ist aus dem Gelenk gerissen. Sie kann nicht fliegen, und ich kann sie nicht alleinlassen. Sie leidet sehr«, sagte Luxa.
Jetzt fiel bei Gregor der Groschen. »Dann hast du also das Schmerzmittel genommen?«
»Ich wusste nicht, dass Nike es braucht. Ich werde einen Teil davon zurückbringen«, sagte Luxa.
»Es wär gut, wenn dein Onkel sich Aurora mal angucken würde. Er kennt sich in medizinischen Fragen ganz gut aus«, sagte Gregor. Luxa gab keine Antwort. Sie hatte keinen besonders guten Eindruck auf Hamnet gemacht. Und wer wusste, was sie von ihm hielt? Von jemandem, der nach zehn Jahren plötzlich auftauchte, nachdem alle ihn für tot gehalten hatten. Wie die Dinge lagen, würde sie es niemals über sich bringen, ihn um Hilfe zu bitten. »Ich rede mit ihm. Vielleicht kann er ja irgendwas ausrichten. Aber du musst mitkommen.«
Kurz darauf rutschte sie an einer Liane zu ihm herunter. Ihre Augen waren so traurig und müde. Plötzlich fiel es Gregor schwer, noch wütend auf sie zu sein. »Was hast du da?«, fragte er und fuhr sich von der Schläfe zum Kinn, um ihre Narbe nachzuzeichnen.
»Im Irrgarten hat mich eine Ratte angegriffen«, sagte Luxa.
»Danke, dass du Boots da rausgeholt hast«, sagte Gregor.
»Das war Temp«, sagte Luxa.
»Temp ist mit ihr weggerannt. Aber du hast gekämpft, damit er wegrennen konnte«, sagte Gregor. Sie zuckte nur mit den Schultern. »Komm mit, wir gehen zu Hamnet.«
Als Hamnet die Geschichte hörte, setzte er sich denRucksack mit den Arzneimitteln auf. Dann folgten sie Luxa in den Dschungel. Nach einer Weile blieb sie stehen, schob eine Lage dichtes Gestrüpp beiseite und gab den Eingang zu einer Höhle frei. Darin waren einige Mäuse und Aurora, Luxas goldene Fledermaus. Die Ärmste lag auf dem Bauch, die denkbar unbequemste Position für eine Fledermaus, und ein Flügel stand in einem unnatürlichen Winkel heraus. In ihrem Blick lag ein stumpfer, abwesender Ausdruck, den Gregor noch nie an ihr gesehen
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