Gregor und der Spiegel der Wahrheit
Gregor die anderen Reisegefährten gar nicht sehen. Er blieb dicht vor Temp und Boots, um sicherzugehen, dass sie im Gestrüpp nicht verloren gingen.
Hamnet teilte jedem von ihnen eine Nummer von eins bis elf zu und ließ sie regelmäßig durchzählen. Boots fand das toll und vergaß nie, mit großer Begeisterung »Neun!« zu rufen. Für Temp war es nicht ganz so einfach, denn er hatte Probleme, sich erstens zu merken, dass er Nummer zehn war, und zweitens, dass die Zehn nach der Neun kam. Gregor wusste, dass die Kakerlaken keine großen Rechenkünstler waren. Schon die einfachsten Additionen bereiteten ihnen Schwierigkeiten. Boots, die schon bis zwanzig zählen konnte und sich nur bei dreizehn und vierzehn manchmal verhedderte, sprang Temp jedes Mal zu Hilfe. »Temp, sag ›zehn‹! Temp, sag ›zehn‹!«, rief sie, wenn er seinen Einsatz verpasste. Gregor hoffte, dass es für Temp nicht peinlich war. Er ließ sich jedenfalls nichts anmerken.
Einmal bemerkte Gregor beim Durchzählen, dass Luxa zurückgefallen war und jetzt direkt vor ihnen ging. »Wie geht es Aurora?«, fragte er.
»Besser, so viel besser, wenngleich sie noch immer leichte Schmerzen hat«, sagte Luxa. Sie wartete, bis er sie eingeholt hatte, und fragte verwundert: »Gregor … wer ist dieser Junge? Der mit dem Zischer spricht?«
»Er heißt Hazard. Er ist Hamnets Sohn. Also ist er wohl dein Cousin«, sagte Gregor.
»Wie kann das sein?«, fragte Luxa mit gerunzelter Stirn. »Er hat grüne Augen.«
»Ja, seine Mutter war Überländerin. Hamnet hat sie hier irgendwo kennengelernt. Er hat nicht viel davon erzählt«, sagte Gregor.
»Mein Cousin«, sagte Luxa. Gregor sah ihr an, dass das widersprüchliche Gefühle in ihr auslöste. Ihre Erfahrungen mit Cousins waren nicht immer positiv gewesen.
»Ich glaube, er ist ein guter Cousin. Wie Howard oder Nerissa«, sagte Gregor.
»Nerissa ist jetzt also Königin?«, fragte Luxa.
»Ja, aber wenn wir zurückkommen, bist du wieder Königin, oder?«, sagte Gregor.
»O ja. Von dieser Krone wird man mich nicht so einfach befreien. Wie ergeht es Nerissa? Haben sie ihr übel mitgespielt?«, fragte Luxa.
»Sie schlägt sich ganz tapfer. Auf einer Versammlung hat sie Ripred und allen anderen die Stirn geboten. Du wärst stolz auf sie gewesen«, sagte Gregor.
»Ich bin immer stolz auf Nerissa«, sagte Luxa. »Wenn es den Narren auch gefällt, ihre Verdienste zu schmälern, so halte ich sie deswegen doch nicht für minderbegabt.«
»Das seh ich genauso. Ares und ich haben es nur ihr zu verdanken, dass wir noch am Leben sind. Sie hat als Einzige kapiert, was die Prophezeiung des Fluchs bedeutet. Und weshalb es gut war, dass ich die weiße Ratte nicht getötet habe«, sagte Gregor bedeutsam.
»Dann sage mir, Gregor, warum ist es gut, dass die weiße Ratte lebt?«, fragte Luxa seufzend.
Also holte Gregor tief Luft und begann bei dem Kampf mit den Riesenschlangen, wo er Luxa aus den Augen verloren hatte. Er erzählte ihr, wie er die weiße Ratte im Irrgarten verschont und bei Ripred gelassen hatte, wie in Regalia alle über ihn hergefallen waren und wie Nerissa ihm das Leben gerettet hatte, indem sie die Prophezeiung entschlüsselte. Er erzählte von Boots’ Rückkehr und von den Monaten in New York, als er auf Nachricht aus dem Unterland gewartet hatte. Dann erklärte er ihr alles, was er über die Pest wusste, und dann das Schwerste – die Namen all derer, die erkrankt waren. Schnell ging er zur Suche nach dem Heilmittel über, wie sie Hamnet getroffen und den tückischen Weg durch den Dschungel genommen hatten, der ihn schließlich in den Treibsand geführt hatte. »Und da bist du aufgetaucht«, sagte er. »Also, was ist mit dir und Aurora passiert?«
Luxas Geschichte war kürzer, aber nicht weniger dramatisch. Bei der Schlacht mit den Riesenschlangen hatten Aurora und sie Boots und Temp zu fassen bekommen und waren mit ihnen in einen Tunnel getaucht. Die Wellen hatten ihnen den Weg zu den anderen bald abgeschnitten. Stundenlang hielten sie sich an Boots’ und Temps Schwimmwesten fest und trieben im kalten Wasser. Schließlich schafften sie es bis in den Irrgarten, wo sie Twitchtip in die Arme liefen. Die wollte sie gerade zu einer sichereren Stelle führen, als ein Dutzend Ratten angriff. Luxa befahl Temp, mit Boots wegzulaufen, und hielt ihm die Ratten so lange vom Leib, bis er einen guten Vorsprung bekam. Dann floh sie, wobei sie sich an Twitchtips Anweisungen hielt. Sie brauchten zwei Tage, um
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