Gregor und der Spiegel der Wahrheit
noch über den »Noch nie einen Sternchatten gesehen« Witz, bis ihm klar wurde, dass daran gar nichts Witziges war. Alarmiert setzte er sich auf. Die Gruppe war am Rand eines großen rechteckigen Feldes voller Sternschatten verstreut. Boots lag zusammengerollt in den Blättern neben ihm und kicherte über ihre Daumen. Nike hatte einen Schluckauf, worüber Luxa und Hazard sich kaputtlachten. Aurora, die offenbar wieder fliegen konnte, war in der Luft und vollführte träge Loopings. Auch die meisten anderen machten einen verwirrten Eindruck. Sowohl Ripred als auch Hamnet atmeten tief den Duft des Sternschattens ein, also machte Gregor dasselbe. Fast augenblicklich bekam er einen klaren Kopf.
»Was war das denn?«, fragte er.
»Die Blumen verströmen einen Duft, der für ein Gefühl großen Glücks und Wohlbehagens sorgt«, sagte Hamnet. »Und dann, so vermute ich, ziehen sie ihre Opfer in den Weingarten und zerstückeln sie.«
»He! Darüber hättest du uns aber auch mal vorher aufklären können!«, sagte Gregor.
»Wir hatten Angst, ihr würdet versuchen, gegen sie zu kämpfen«, sagte Hamnet. »Das hätte euer Ende bedeutet.«
»Wir hätten gegen sie kämpfen können«, sagte Luxa, doch dann hickste Nike wieder und sie krümmte sich vor Lachen.
»Oh, ich bitte dich!«, sagte Ripred und verdrehte die Augen. »In Wirklichkeit mussten Hamnet und ich die Hälfte von euch da rausziehen, oder erinnert Ihr Euch daran nicht mehr, Eure Hoheit?«
Gregor sah Luxa an, dass sie verwirrt war, und vermutete, dass dieser Teil des Ritts für sie genauso verschwommen war wie für ihn.
»Die Kleinsten sind zuerst betroffen«, sagte Hamnet. »Nur gut, dass Frill und ich letzte Nacht Hazard dabeihatten. Als wir zu den silbernen Blumen kamen, fing er fast augenblicklich an zu lallen. So waren wir gewarnt, was uns erwartete.« Er schlang einen Arm um Hazard und drückte ihn.
»Pflücken wir jetzt die Blätter?«, fragte Hazard. »Kann ich helfen?«
»Ja, ihr könnt alle helfen«, sagte Hamnet. »Je eher wir die Pflanzen ernten können, desto besser.«
Doch bevor sie anfingen, bestand Hamnet darauf, dass jeder von ihnen eine Handvoll Sternschattenblätter aß.
»Warum das denn?«, fragte Gregor. »Von uns hat doch keiner die Pest.«
»Aber zweifellos waren wir ihr alle ausgesetzt. ›Wer dieWiege des Übels sucht, findet das Mittel gegen den Fluch‹«, sagte Hamnet. »Das bedeutet, dass die Pest hier im Weingarten entsteht. Ich weiß nicht genau, wo oder wie. Wir alle haben Kratzer oder Wunden. Deine Füße, Gregor. Die Schnitte von den Ranken.« Hamnet drehte Gregors Arm herum, und jetzt sah man ein wildes Muster von Wunden, dort, wo die Reben seine Arme umschlungen hatten. »Wenn die Pestbazillen in der Luft herumschwirren oder in den Pflanzen wachsen oder hier, wo wir stehen, in der Erde verborgen liegen, könnt ihr gewiss sein, dass sie auch den Weg in euer Blut finden werden.«
»Boots!«, sagte Gregor. »Komm, wir müssen das Zeug essen!« Er steckte sich eine Handvoll Blätter in den Mund und kaute. Es schmeckte gar nicht so übel. Wie eine Mischung aus Zitrone und Minze und Tee. Boots, die kein Grünzeug mochte, weigerte sich, die Blätter zu essen, bis Hamnet ein Spiel daraus machte, wer am schnellsten ein Blatt aufessen konnte. Hazard und Temp machten mit und waren so schlau, Boots fast jedes Mal gewinnen zu lassen. Auf diese Weise hatte sie schon bald eine ordentliche Anzahl Blätter verspeist.
Die Sternschatten ließen sich leicht aus der dünnen Erdschicht ziehen, in der sie wuchsen, doch niemand hatte eine Idee, wie man sie am besten für die Rückreise verpacken könnte. Die Pflanzen waren nur etwa fünfzig Zentimeter hoch und damit zu kurz, um sie zum Umwickeln zu benutzen. Da fiel Gregor das Klebeband ein, und er holte esaus seinem Rucksack. »Hier, damit geht es!« Er rollte ein Stück ab und zeigte es den anderen. Wenn sie das breite Band in schmale Streifen schnitten, konnten sie damit eine richtig große Menge binden.
»Das ist ganz ausgezeichnet«, sagte Hamnet. »Vielen Dank.«
»Bedank dich nicht bei mir, bedank dich bei Mareth«, sagte Gregor und verstummte plötzlich. Jetzt, da sie alle wussten, was es mit dem Garten der Hesperiden auf sich hatte und dass Mareth Hamnet gerettet hatte, kam es ihm taktlos vor, den Namen zu erwähnen. »Entschuldigung«, murmelte er.
»Warum?«, fragte Hamnet. »Mareth ist einer der wenigen, in deren Schuld ich gern stehe.«
»Ja«, sagte Gregor. »Er ist schwer
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