Gregor und der Spiegel der Wahrheit
Königin war, bezweifelte er, dass die Ärzte ihn vorzeitig aus dem Krankenhaus entlassen würden, deshalb schlich er sich einfach hinaus, als niemand ihn sah. Er musste sich eingestehen, dass das vielleicht nicht gerade die beste Idee war. Sein ganzer Körper tat weh, sowohl innerlich als auch äußerlich. Immerhin entspannten sich seine Muskeln ein wenig, als er sich bewegte, obwohl es an den Nähten zog.
Es musste mitten in der Nacht sein. Im Kinderzimmer war niemand, aber Dulcet hatte garantiert dafür gesorgt, dass Boots in guten Händen war. Er lief durchs Gebäude, bis er eine Wache fand, die er fragen konnte, wo es zu Luxas Zimmer ging. Der Mann sah Gregor etwas unsicher an, führte ihn aber doch durch den Palast zum königlichen Flügel. Dort war es, wie Gregor erwartet hatte, sehr prunkvoll, und überall standen Wachposten. Er wartete ein paar Minuten, dann durfte er eintreten.
Er hatte Luxas Wohnung noch nie gesehen. Sie empfing ihn in einem großen Zimmer mit Kamin, und er sah, dass mehrere Räume davon abgingen. Offenbar hatte sie eine riesige Luxuswohnung ganz für sich allein. Er dachte an sein eigenes Zimmer zu Hause, das eigentlich eine Abstellkammer war. »Wow, gehört die ganze Wohnung dir?«, fragte er.
»Seit meine Eltern ermordet wurden«, sagte sie. Sie zupfte an einem ihrer vielen Verbände, während sie den Blick durchs Zimmer schweifen ließ. Plötzlich war Gregor wahnsinnig dankbar für seine Wohnung zu Hause, die vollgestopft war mit Leuten, die er lieb hatte. »Aber nun wird Hazard hier mit mir wohnen.« Bei dem Gedanken hellte sich ihre Miene auf.
»Wie geht es ihm?«, fragte Gregor.
Sie ging zur Tür eines Nebenzimmers und winkte Gregor herbei. Es war ein Schlafzimmer, von warmem Kerzenschein erhellt. Hazard und Boots lagen auf dem riesigen Bett und schliefen tief und fest, eng aneinandergekuschelt wie junge Hündchen.
»Es ist sehr schwer für ihn. Er ist es so gar nicht gewohnt, in Räumen zu leben. Und natürlich waren Frill und Hamnet sein Ein und Alles …«, sagte Luxa.
»Ja, ich weiß«, sagte Gregor. »Aber immerhin hat er dich.«
»Weißt du, was er sagte, ehe er einschlief? Er sagte: ›Mein Vater ist von hier in den Dschungel geflohen. Er ist vorm Kämpfen geflohen.‹ Aber es hat ihn doch eingeholt«, sagte Luxa.
»Dasselbe hat meine Großmutter über die Prophezeiung gesagt: Ich könnte zwar versuchen wegzulaufen, aber sie würde mich doch finden«, sagte Gregor.
»Vikus sagt, der Krieg finde jeden«, sagte Luxa. Sie nahm etwas von einer Frisierkommode und zeigte es Gregor. Es war ein Kristall. Blassblau, in der Form eines Fisches.
»Von deinem ersten Flug mit Hamnet?«, fragte er.
»Ja. Er hat wirklich erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Fisch, nicht wahr?«, sagte sie.
Das stimmte. Gregor fiel nichts ein, was er sonst dazu hätte sagen können. Jedenfalls nichts Gutes. Der kleine Gesteinsbrocken erinnerte an so viel Tragisches.
Sie gingen wieder ins Wohnzimmer und setzten sich. Gregor fragte sich, ob seine nächste Frage indiskret war, aber er stellte sie trotzdem. »Wie geht es Vikus?«
»Nicht gut«, sagte Luxa. »Was Solovet getan hat, hat ihn vernichtet. Doch er kümmert sich um die Hilfseinsätze und begleitet die diplomatischen Angelegenheiten. Die Ratten sind natürlich außer sich vor Zorn. Vikus tut, was getan werden muss, und ich tue dasselbe. Auch du musst dein Leben weiterleben, Gregor. Du musst bald nach Hause zurückkehren.«
»Ja. Ich schätze, wir fliegen in ein paar Tagen zurück. Sobald es meiner Mutter wieder so gut geht, dass sie nach Hause kann«, sagte Gregor.
»Dass sie nach Hause kann?«, sagte Luxa überrascht. »Aber Gregor, das wird noch viele Monate dauern.«
27. Kapitel
W ährend er den Flur entlangrannte, hörte er, wie Luxa hinter ihm herrief, aber er konnte jetzt nicht stehen bleiben, um es ihr zu erklären. Viele Monate? Sie wollten seine Mutter monatelang hier unten behalten! Das kam überhaupt nicht infrage!
Als er die Treppen hinuntersprang, spürte er einzelne Nähte aufreißen, aber er achtete nicht darauf. Er lief im Krankenhaus umher, bis er jemanden fand, der so aussah, als hätte er dort etwas zu sagen. Das hatte er auch – ein knapper Befehl des Arztes genügte, und schon wurde Gregor buchstäblich wieder ins Bett geschleppt. Niemand hörte ihm richtig zu, als er von seiner Mutter anfing, denn sie waren alle viel zu besorgt wegen seiner aufgerissenen Wunden. Blut war durch die weißen Verbände gesickert.
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