Gregor und der Spiegel der Wahrheit
»Hören Sie«, sagte er, »meinen Beinen geht’s gut, aber ich muss mit jemandem darüber reden, dass meine Mutter auf keinenFall …« Ein Unterländer schnitt ihm das Wort ab, indem er ihm eine Medizin an die Lippen drückte. Vor lauter Überraschung schluckte Gregor sie hinunter. Fast augenblicklich wurde er schläfrig. »Nein … nein … Sie verstehen das nicht …«, sagte er noch, und da verlor er auch schon das Bewusstsein.
Als er aufwachte – wie viel später, wusste er nicht –, dauerte es eine Weile, bis ihm wieder einfiel, was passiert war. Erschrocken fuhr er hoch, doch eine Hand legte sich auf seine Brust. Ein sehr müde aussehender Vikus drückte ihn zurück aufs Bett. »Bleibe liegen, Gregor, sonst werden sie dich zwingen müssen.«
»Was heißt das?«, fragte Gregor.
»Dich ans Bett binden«, sagte Vikus. »Du musst die Wunden verheilen lassen. Es ist zu deinem eigenen Besten.«
»Luxa ist auch aufgestanden. Sie ist oben, ich hab sie gesehen«, widersprach Gregor.
»Luxa rennt nicht wie eine Wilde durch den Palast – und sie hat nicht am Boden gekämpft. Ihre Wunden sind nicht so zahlreich und weniger tief«, sagte Vikus. »Gregor, bitte, wenn du dich nicht sträubst, wirst du es bald überstanden haben.«
Gregor gab den Widerstand auf – weniger wegen Vikus’ Worten als wegen seines Anblicks. Denn Vikus sah furchtbar aus: tiefe Ringe unter den blutunterlaufenen Augen, das ganze Gesicht wie eingefallen. Gregor wollte ihm nicht noch mehr Kummer bereiten. »Es ist nur wegen meiner Mutter«,sagte er und legte sich wieder ins Bett. »Luxa hat gesagt, ihr wollt sie monatelang hierbehalten. Aber das geht nicht.«
»Wir müssen. Sie ist zu krank, um zu reisen, selbst den kurzen Weg bis zu euch nach Hause. Und wenn sie dort wäre, wer sollte sie pflegen? Diese Pest ist eine Seuche des Unterlands. Wenn wir sie hier nicht vollständig heilen, nimmt deine Mutter sie vielleicht mit nach Hause. Was wäre, wenn sie sich im Überland ausbreiten würde? Eure Ärzte wüssten nicht, um was für eine Krankheit es sich handelt, geschweige denn, wie man sie heilt.«
»Aber ich dachte, es geht ihr schon besser«, sagte Gregor.
»So ist es auch, doch sie hat die Krankheit noch immer im Blut. Sie muss erst wieder ganz gesund werden. Und du musst mir helfen, sie davon zu überzeugen, Gregor, denn du weißt, wie gern sie nach Hause zurückkehren würde«, sagte Vikus.
»Die Sache ist die … wir brauchen sie, Vikus«, sagte Gregor. Auf einmal kam er sich fast so klein vor wie Boots.
»Das weiß ich. Und ihr werdet sie ja auch wiederbekommen. Aber noch nicht sogleich«, sagte Vikus. »Wirst du mir helfen?«
Gregor nickte. Was blieb ihm auch anderes übrig? Sie konnten nicht das Risiko eingehen, seine Mutter mit nach Hause zu nehmen und eine Pestepidemie auszulösen.
»Ich danke dir. So habe ich eine Sorge weniger«, sagte Vikus. Er sah wirklich schlecht aus.
»Was ist mit Solovet?«, fragte Gregor vorsichtig.
»Solange die Untersuchungen laufen, darf sie unser Zuhause nicht verlassen. Du kannst dir denken, dass es zwischen uns nicht einfach ist«, sagte Vikus.
»Warum hat sie es getan?«, sagte Gregor.
»Um die Macht über die Pest zu erlangen … Es hätte für uns völlige Herrschaft über die Warmblüter bedeutet«, sagte Vikus. Er suchte nach Worten, um es zu erklären. »Vom militärischen Standpunkt aus ist es eine höchst erstrebenswerte Waffe. Absolut tödlich und unbesiegbar für alle, die nicht über das Heilmittel verfügen. Solch eine vernichtende Waffe … und solch eine verführerische …« Er rieb sich die Augen, und Gregor fürchtete schon, er würde in Tränen ausbrechen, aber das geschah nicht. »Wir sind sehr verschieden voneinander, Solovet und ich.«
»Ja. Ich finde es irgendwie komisch, dass Sie miteinander verheiratet sind«, sagte Gregor und fragte sich, ob das wohl eine ungehörige Bemerkung war.
Doch Vikus lächelte nur. »Ja. Auch für uns war es immer ein gewisses Rätsel.«
Die nächsten beiden Tage musste Gregor im Bett verbringen. Er hatte viel Besuch, aber es machte ihn trotzdem verrückt. Er dachte die ganze Zeit an den Dschungel und all das, was dort passiert war. Er dachte auch viel über die Prophezeiung nach, und eins verwirrte ihn immer noch. Als Nerissa ihn besuchte und sich an sein Bett setzte, fragte er sie danach.
»Nerissa, weißt du, was ich an der Prophezeiung desBluts immer noch nicht verstehe?«, sagte er. »Wieso mussten wir uns überhaupt
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