Greife nie in ein fallendes Messer
Yen abgestürzt?« – »Steht was auf dem Reuters?« Nein, auf den Bildschirmen der Nachrichtenagentur Reuters waren keine Antworten auf diese unerklärlichen Bewegungen zu finden. Die Kursverluste in Japan hätte ich mir noch mit den hohen Ölpreisen erklären können, denn die Japaner waren bei ihren Ölimporten zu 75 Prozent auf die Öllieferungen aus der Golfregion angewiesen. Aber warum gerade jetzt und warum so ungewöhnlich heftig? Plötzlich rasten die vorher so ruhigen Börsianer los, wie von der Tarantel gestochen, zu den Kursmaklern hinter ihren Holztheken. |67| »5 000 Bayer an dich, 10 000 Siemens an dich.« An dich, an dich, immer nur an dich. Jeder wollte, so schnell wie möglich, seine Aktienbestände an den Mann bringen, seine Verkaufsorders ausführen. Nur raus aus den Aktien!
Natürlich gibt es bei jedem Verkauf auch die Gegenseite, also den Käufer, aber in diesem Getöse auf dem Parkett waren die Verkaufsangebote eindeutig in der Überzahl, zumindest schrien die Verkäufer lauter. Auf meinem Monitor neben der Kamera, oben auf der Galerie, konnte ich beobachten, wie der DAX ungebremst in den Keller ging: 1 740, 1 735, 1 725, 1 720. Es schien kein Halten zu geben.
Heute würden derartige Bewegungen nicht einmal ein müdes Lächeln provozieren, beim heutigen DAX-Stand sind Kurssprünge von 100 Punkten fast an der Tagesordnung. Aber in jenen Augusttagen des Jahres 1990 nahm mir dieser Absturz fast den Atem. Und das alles ohne sichtbaren Grund! In einer kurzen Pause zwischen meinen Reportagen rannte ich die große Treppe hinunter in den Börsensaal. Irgendeiner musste mir doch die Erklärung für diese offensichtliche Panik geben können. Aber verständlicherweise mochte sich keiner mit mir auf ein längeres Gespräch einlassen. Keine Zeit! Aus den Zurufen und Wortfetzen konnte ich mir aber ein ungefähres Bild zusammensetzen: Die Iraker hätten die Saudis überfallen, und die Amerikaner hätten Bagdad bombardiert. Woher man das wusste? Dumme Frage! Von einem Kollegen natürlich. Von welchem? Vergessen! Irgendeiner der Börsianer hatte per Telefon aus London diese Neuigkeiten erfahren, daraufhin seine Aktienbestände lauthals zum Verkauf angeboten und die Erklärung für seine plötzlichen Aktienverkäufe dem Nebenmann weitergegeben. Wenn dann, über vier oder fünf Stationen, das Gerücht zu seinem Urheber zurückfand, sah dieser darin nur eine zusätzliche Bestätigung seines Telefongespräches mit London – verrückt, aber wirksam.
Am nächsten Tag kam es zu einer leichten Erholung an der Frankfurter Börse, die Kurse stiegen wieder, denn die Gerüchte hatten sich in der Zwischenzeit als falsch herausgestellt. Der Urheber der Falschmeldungen war natürlich nicht mehr auszumachen.
In den folgenden Wochen erwies sich Saddam Hussein als virtuoser Spieler, der es meisterhaft verstand, seine Gegner durch |68| einen ständigen Wechsel zwischen Kriegsgerassel und Schalmeienklang zu lähmen. Ausländische Familien wurden mit ihren Kindern im Irak als Geiseln gefangen genommen, sie sollten als Schutz vor amerikanischen Bombenangriffen benutzt werden, die westlichen Botschafter sollten spätestens bis zum 24. August ihre Vertretungen in Kuwait räumen. Prompt rutschte der DAX auf 1 549, stieg der Ölpreis auf 31 US-Dollar pro Barrel. Als das Ultimatum für die Räumung der Botschaften verstrich, ohne die geringste Reaktion vonseiten der westlichen Botschaften und des Irak, fiel der Ölpreis wieder auf 28 US-Dollar, stieg der DAX um fast 100 Punkte auf 1 654,80.
Ganz langsam gewöhnten sich die deutsche Öffentlichkeit und die Börse an dieses orientalische Wortgeklingel aus irakischen Quellen. Man konzentrierte sich wieder auf deutsch-deutsche Finanzprobleme und sorgte sich über den Anstieg der Verbraucherpreise im August von 2,5 Prozent auf 2,9 Prozent.
Nicht einmal die bedrohte Ölversorgung vermochte uns sonderlich aufzuregen, denn kluge Köpfe hatten festgestellt, dass wir erstens über Ölreserven für 200 Tage verfügten und dass zweitens dank des Nordsee-Öls unsere Abhängigkeit vom OPEC-Öl eh abgenommen hatte. Warum sollten wir uns also groß aufregen? Und drittens hatte sich unsere Wirtschaftskonjunktur dank des technischen Fortschritts aus der Abhängigkeit von der Energie etwas befreit. Die Börsianer auf dem Parkett demonstrierten einen erstaunlichen Gleichmut. Nichts schien sie irritieren zu können. Selbst als am 14. September die Eilmeldung über die Bildschirme der Agenturen
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