Greife nie in ein fallendes Messer
sogenannte Geiselhausse. Der DAX sprang um 30 Punkte auf 1 504 hoch, der Ölpreis fiel um 3 US-Dollar auf 26,40 US-Dollar pro Barrel. Da an der Börse in der Regel die Zukunft gehandelt wird – für das Vergangene gibt der Börsianer nichts –, diskutierten wir in der Telebörse mit Ölexperten die Marktsituation nach einer friedlichen Beendigung der Golfkrise, als ob Saddam Husseins Bereitschaft, die Geiseln freizulassen, bereits den Rückzug aus Kuwait bedeutete. Zweifellos werde es nach dem friedlichen Ende des Konflikts, wenn auch wieder irakisches Öl gekauft werden könne, eine Ölschwemme mit der Folge drastischer Preissenkungen auf dem Weltmarkt geben. Bei diesen Planspielereien |73| verloren wir an der Börse gelegentlich die Realität aus den Augen, weil wir im Grunde unseres Herzens unbedingt an eine kräftige Erholung der Kurse glauben wollten.
Diese Erfahrung habe ich während meiner Zeit als Börsenbeobachter und -kommentator auf dem Parkett immer wieder gemacht: Ist die Börse freundlich gestimmt, saugt sie aus der kleinsten Blüte ihren Honig und ignoriert konsequent alle negativen Informationen, die dieses schöne Bild zerstören könnten. Sobald aber diese Hochstimmung in ihr Gegenteil umschlägt, sei es, weil die gestiegenen Kurse zu Gewinnmitnahmen reizen oder aufgrund politischer Ereignisse, werden die im Hinterkopf gespeicherten Negativmeldungen hervorgekramt und als Gründe für Verkäufe benutzt. In derartigen Situationen sollte man als Anleger in aller Ruhe prüfen, welche Richtung die größere Plausibilität besitzt, und entsprechend seiner eigenen Meinung handeln – auch wenn man dann gegen den Strom schwimmt.
Zugegeben, zur Jahreswende 1990/91 war dies für die deutschen Anleger keine einfache Aufgabe. Das Militärszenario am Golf wurde in den Medien in den grellsten Farben gemalt: Bei einem Angriff würden die amerikanischen Truppen und ihre Verbündeten auf eine perfekt ausgebildete und ausgerüstete irakische Armee stoßen, zudem sei Saddam Hussein im Besitz furchtbarer Waffen, die er bei einem Angriff auch einsetzen werde. Ein Militärschlag gegen den Irak hätte folglich entsetzliche Folgen für die Amerikaner selbst, aber auch für benachbarte Staaten wie Israel. Tatsächliche und selbsternannte Nahost-, Militär- und Friedensexperten wurden per Bildschirm zu Stammgästen in unseren Wohnzimmern und fütterten uns mit ihren Analysen und Visionen. Mehr als 100 000 Tote werde es geben, die Welt werde wegen zerstörter Ölfelder in eine Katastrophe stürzen, wirtschaftlich und klimatisch, die Amerikaner würden alle Verbündeten wegen der immensen Kriegskosten unerbittlich zur Kasse bitten. Und das alles nur, um eine billige Ölversorgung der industrialisierten westlichen Welt zu sichern? Kein Krieg ums Öl, das war der vorherrschende Tenor in der täglichen Berichterstattung. Es müsse unbedingt weiter verhandelt werden.
Das große Gesundbeten begann. Was habe Saddam Hussein denn |74| Böses getan? Er habe doch nur das gemacht, was die Europäer ein, zwei Jahrhunderte zuvor ebenfalls praktiziert hätten! Die überfallenen und ausgeplünderten Kuwaiter genossen offensichtlich in der Öffentlichkeit keinen besonders hohen Stellenwert.
In Deutschland wurde dieses Gebräu noch angereichert um Zutaten aus dem Bundestagswahlkampf. Während die Regierungskoalition um Kanzler Kohl den epochalen Erfolg der Wiedervereinigung feierte, stieß die Opposition um Oskar Lafontaine das Wählervolk im Westen Deutschlands immer wieder mit der Nase auf die ebenso geschichtsträchtigen Kosten der Wiedervereinigung. Streiks um höhere Löhne bei der Reichsbahn der DDR und um einen Kündigungsschutz nach der Übernahme durch die Bundesbahn taten ein Übriges.
Selbst als Helmut Kohl aus der ersten Wahl zu einem gesamtdeutschen Bundestag als Sieger hervorging, gab es an der Börse keine Kohl-Hausse. Die Ahnungen von den Finanzlasten der Wiedervereinigung und den Folgen für Löhne und Preise lagen wie eine Zentnerlast auf den Seelen der deutschen Anleger. Mit Sicherheit werde sich die Bundesbank mit höheren Zinsen gegen die Inflationsgefahr stemmen, befürchteten die Händler und Makler auf dem Parkett. Nur wenige verwiesen Anfang Dezember auf den offenkundigen Willen der Wahlsieger, durch eine stringente Sparpolitik im Westen Deutschlands die zusätzlichen Finanzlasten der Wiedervereinigung teilweise auszugleichen, kaum jemand erwähnte die vollen Auftragsbücher, die der Aufbau der maroden neuen
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