Greife nie in ein fallendes Messer
Gegenteil, es sah ganz so aus, als nutzten die deutschen Kleinanleger in aller Ruhe und Gelassenheit die fallenden Kurse, um ihren Bestand an T-Aktien in kleinen Schritten aufzustocken. Doch ohne die erwartete Ausverkaufsstimmung konnte es auch keine Ausverkaufspreise geben, und ohne einen jähen Kurssturz sahen die Profis keine Möglichkeit, mit ihren steigenden Liquiditätsreserven auf dem Parkett abzuräumen.
Am 2. Oktober 1998 aber war es dann offenbar doch so weit. Schon unmittelbar nach Beginn der Präsenzbörse gegen 8:30 Uhr konnte man die Angst auf dem Parkett förmlich riechen. Meine telefonischen Rundrufe bei einigen großen Maklern hatten zu meiner Überraschung keine Hinweise auf einen Verkaufsdruck vonseiten der Kleinanleger gebracht. Der werde aber wohl noch im Laufe der nächsten Stunden kommen, hieß es immer wieder, spätestens zu den Kassakursen, also ab 12 Uhr, wenn die Kleinaufträge abgearbeitet würden, müsse man sich auf das Schlimmste gefasst machen.
Kurz vor 9 Uhr sieht das Umfeld der Börse dann tatsächlich erschreckend aus. Wie aus einer tiefschwarzen Gewitterfront zucken unaufhörlich die Blitze über die Bildschirme der Agenturen: Der US-Dollar stürzt auf unter 1,63 D-Mark. Die Daimler-Aktie säuft ab. Wie von einem Torpedo getroffen, geht das Flaggschiff der deutschen Börse unter. Die Kommentare meiner Gesprächspartner sind von einer Kriegsberichterstattung nicht mehr zu unterscheiden.
»Warum fallen die Daimler in diesem Tempo?«, fragen sich alle |102| ratlos, »in wenigen Minuten von 124 auf 114 Mark! Der schwache Dollar allein kann es doch nicht sein, denn nach der Fusion der deutschen Daimler AG mit der amerikanischen Chrysler wird Daimler-Chrysler weniger als bisher vom Verhältnis US-Dollar zu D-Mark abhängig sein«, analysieren die Profis die Lage. Ein im Verhältnis zur D-Mark schwacher US-Dollar erschwert zwar grundsätzlich den Export deutscher Produkte in den US-Dollar-Raum, das ist richtig, »aber DaimlerChrysler wird doch gerade in den USA produzieren! Und schließlich darf man nicht vergessen, dass mit dem neuen Euro für fast 60 Prozent der deutschen Exporte alle Wechselkursrisiken wegfallen. Denn das gesamte Euroland mit 300 Millionen Konsumenten wird durch die einheitliche Währung für die exportorientierte deutsche Industrie zum Binnenmarkt.«
Die Diskussionen auf dem Parkett drehen sich im Kreis. Viele Argumente sprechen für Daimler. Selbst wenn die Autokonjunktur 1998 kurz vor ihrem Höhepunkt stehen sollte: Das ist doch kein Grund, diesen Wert so stark zu verprügeln, schließlich ist Daimler mit Airbus und Hightech mehr als nur ein Autowert! Das alles scheint die ausländischen Anleger aber nicht zu interessieren, die Daimler-Kurse fallen. Vor allem amerikanische Anleger trennen sich von ihren Chrysler-Aktien, höre ich vor der Schranke des zuständigen Kursmaklers. Über Chrysler kommt also der Druck auf die Daimler.
Dann die Erklärung: Überraschend haben die zuständigen Organisatoren des amerikanischen Aktienindex Standard & Poor’s entschieden, dass die neue DaimlerChrysler-Aktie nicht in den großen Standard & Poor’s 500 aufgenommen wird. DaimlerChrysler sei halt eine deutsche Gesellschaft, hört man aus den USA, und im Standard & Poor’s gebe es nur amerikanische Aktien. Dass auch niederländische Titel in diesem Index geführt werden, sei als eine historisch bedingte Ausnahme zu verstehen. Die niederländischen Werte seien in der Gründungsphase des Index aufgenommen worden und deshalb sozusagen als »Großväter« Mitglied in diesem honorigen Club. Nach Jahrzehnten der Mitgliedschaft könne man diesen Unternehmen schlecht den Stuhl vor die Tür setzen. Weitere Ausnahmen, wie zum Beispiel jetzt bei DaimlerChrysler, werde man aber nicht machen.
Für uns auf dem Parkett ist diese Meldung eine mehr als unangenehme |103| Nachricht. Viele Fonds in den USA bilden ihre Portfolios dem Dow-Jones-Industrial-Index nach oder orientieren sich am Standard & Poor’s 500. Wenn DaimlerChrysler aber nicht im Standard & Poor’s 500 vertreten sein werden, müssen diese Fonds auch keine DaimlerChrysler kaufen. Schlimmer noch: Chrysler ist als amerikanischer Wert noch im Standard & Poor’s 500 enthalten, wird aber nach der Fusion herausgenommen werden. Damit sind die entsprechenden Fonds eventuell gezwungen, sich von ihren Chrysler-Aktien zu trennen. Daher der Druck auf Chrysler, beziehungsweise auf Daimler, die laut Fusionsvertrag in einem festen
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