Greife nie in ein fallendes Messer
Bevölkerung, schreit die Mehrheit der Börsianer »Von dir«, wollen die meisten also kaufen; kommt eine vorsichtige Distanzierung oder gar ein Dementi, machen alle auf dem Absatz kehrt. »An dich« ist dann nur noch zu hören.
Aber dieses Verkaufsgeschrei hat bei weitem nicht dieselbe Dynamik und Lautstärke wie die Rufe der Gegenseite. Offenbar haben die Händler und Makler mehr Kaufwünsche als Verkaufsaufträge in ihren Büchern. Wenige Minuten vor Schluss der Börsensitzung platzt der Knoten.
»Die Putschisten mit Gennadi Janajew auf dem Weg zum Flughafen«, steht als Schlagzeile auf dem Bildschirm. Das ist es, das ist das lang ersehnte Signal, das auf die Aufgabe der Putschisten hindeutet. Wer auf dem Weg zum Flughafen ist, der befindet sich auf der Flucht! Etwas anderes kann das gar nicht bedeuten. Jetzt gibt es nur noch eines: Kaufen! Der DAX springt nach oben auf 1 574 Punkte, am Rentenmarkt fallen die Renditen um fünf Stellen, der Bund-Future steigt um 50 Punkte, die D-Mark erholt sich gegenüber dem US-Dollar um fast 6 Pfennig. Der US-Dollar kostet jetzt nur noch 1,75 Mark.
Am Tag darauf kam dann die Bestätigung: Michail Gorbatschow kehrte nach Moskau zurück, dank der Tatkraft des Boris Jelzin, der den Putschisten die Stirn geboten und sie zur Aufgabe gezwungen hatte. Der deutsche Aktienindex DAX schloss bei 1 630 und hatte damit seinen vor dem Putsch geltenden Stand wieder erreicht.
Der bewaffnete Aufstand gegen Gorbatschow hatte die Weltbörsen nur für einen Tag in Unruhe versetzen können. Die Normalität |99| hatte uns wieder, mit all ihren großen Sorgen und kleinen Hoffnungen. Politische Börsen haben in der Tat kurze Beine. Den DAX hatte die große Weltpolitik im August 1991 nur für wenige Tage aus dem Tritt gebracht (vgl. Abbildung 3).
Abbildung 3: Entwicklung des DAX, August 1991
----
|100|
Kapitel 5: Die Börse ist keine Einbahnstraße. Das Sommergewitter 1998
Am 2. Oktober 1998, einem Freitag, geschah das, was wir insgeheim schon seit langem erwartet hatten. »Auf keinen Fall kaufen«, war im Sommer die allgemeine Devise der Profis gewesen. Und wer nur in kurzfristigen Zeiträumen dachte – die meisten Börsianer denken so und handeln dementsprechend –, der hatte seine Aktienbestände drastisch abgebaut, hatte Kasse gemacht. »Erst wieder kaufen, wenn die Kleinanleger in Panik geraten und auf Teufel komm raus ihre Aktien verschleudern«, rieten sie mir, dann müsse man die Hand aufhalten und wieder einsteigen. Bis zu diesem Tag aber dürfe es nur eine Strategie geben: »Cash ist fesch.«
Die Geduld der Schnäppchenjäger aber sollte auf eine harte Probe gestellt werden. Zwar gaben die Kurse der deutschen Aktien, die schon seit Juli kontinuierlich nach unten gerutscht waren, weiter nach, aber zu einem regelrechten Ausverkauf der Kleinanleger war es bislang noch nicht gekommen. Sicher, die potenziellen Käufer blieben trotz der sinkenden Kurse nahezu unbeweglich auf ihren liquiden Mitteln sitzen und rührten keinen Finger, aber genauso wenig hörte man auf dem Parkett von Verkaufsabsichten der privaten Kundschaft. Nur wenig Material kam von deutschen Spezialfonds, von amerikanischen und englischen Großanlegern oder auch von der deutschen Terminbörse, doch diese Stückzahlen reichten bei dem offenkundigen Käuferstreik aus, die Börse Schritt für Schritt in Richtung Abgrund zu drängen. »Wir haben jetzt den von mir seit langem vorhergesagten Salami-Crash«, verkündete der pensionierte Crash-Guru Roland Leuschel gelassen in n-tv und fuhr zurück auf seinen portugiesischen Ruhesitz.
Innerhalb eines knappen Vierteljahres hatte der DAX, der Index der |101| dreißig wichtigsten Werte auf dem deutschen Aktienmarkt, von seinem Höchststand Ende Juli bei 6 200 nahezu 30 Prozent eingebüßt, hatten sich die Börsenpropheten zur Rechten und zur Linken auf eine langjährige Baisse eingestimmt, aber von einer Panik bei den Kleinanlegern war nichts zu spüren. Unberührt von den Kursverlusten im DAX verkraftete die Deutsche-Telekom-Aktie, der erklärte Favorit der deutschen Kleinanleger, jeden Kurseinbruch und hielt sich erstaunlich zäh in der Nähe ihrer Höchstkurse.
Der alte Schwung, der die Aktie im ersten Halbjahr 1998 von rund 31 auf über 50 D-Mark katapultiert hatte, war zwar dahin; aber die Sorge um ängstliche Kleinanleger, die sich bei dem geringsten Einbruch entmutigen lassen, verkaufen und damit den Kursrutsch verstärken, diese Sorge erwies sich als unbegründet. Im
Weitere Kostenlose Bücher