Greife nie in ein fallendes Messer
wie vielleicht die US-Wirtschaft, für die der asiatische Markt direkt vor der Haustür lag. Der wegbrechende Absatzmarkt Russland, obgleich in unserer unmittelbaren Nähe, würde für die deutsche Volkswirtschaft ebenfalls von untergeordneter Bedeutung bleiben. Aufgrund dieser Überlegungen rechnete ich nicht mit einer dauerhaften Baisse am deutschen Aktienmarkt, sah mich daher auch nicht veranlasst, mein langfristig geplantes Depot mit deutschen Standardwerten abzubauen. Dennoch würde sich die Börse auf eine langsamere Gangart einstellen müssen, da mit nachlassender Konjunktur in den USA die Gewinne deutscher Unternehmen spätestens im nächsten Jahr ihre bisherige Dynamik verlieren würden. Es drohte zudem ein schwächerer US-Dollar, weil angesichts der konjunkturellen Beruhigung in den USA von steigenden Inflationsgefahren weit und breit nichts zu sehen war. Mit steigenden US-Zinsen, wie von Notenbank-Chef Alan Greenspan noch vor kurzem angedroht, war daher auf keinen Fall zu rechnen; eher stand ein Zinsrückgang ins Haus – gut für den Aktienmarkt, aber mit negativen Folgen für den US-Dollar. Das wachsende Vertrauen der europäischen Anleger in den kommenden Euro und die schlechten Erfahrungen der asiatischen Staaten mit der festen Bindung ihrer Währungen an den US-Dollar, das alles würde auf lange Sicht dem US-Dollar die gewohnte Attraktivität nehmen, ihn folglich gegenüber der D-Mark und dem kommenden Euro schwächen. Die Konsequenzen einer starken D-Mark gegenüber dem US-Dollar hatte die deutsche Exportindustrie 1993 und 1994 leidvoll erfahren. In Zukunft würde sie zwar im europäischen Binnenmarkt und in den niedrigen Rohölpreisen eine sichere Stütze finden; dennoch durfte man die Folgen eines schwächelnden US-Dollars nicht ganz außer Acht lassen.
Zugegeben, sehr viel »würde wahrscheinlich«, »müsste« und »dürfte«, zu viel Konjunktiv, aber Vorsicht schien mir angebracht. »Nicht mehr kaufen«, war daher mein Rat an die Zuschauer, »warten |110| bis Oktober, November, warten, bis die großen institutionellen Anleger, die Spezialfonds oder die Versicherungsgesellschaften mit Blick auf das neue Jahr wieder an die Märkte zurückkehren.« Denn eines war Anfang Juli mit den Händen zu greifen: Gewichtige ausländische Anleger oder auch deutsche Spezialfonds hatten sich offenbar mit Blick auf die Halbjahresbilanz noch Ende Juni auf die deutschen Standardwerte gestürzt, um unmittelbar nach diesem Stichtag ihre großartigen Kursgewinne, immerhin fast 50 Prozent, durch allmähliche Verkäufe zu realisieren. Die Umsätze am Aktienmarkt gingen Anfang Juli schlagartig zurück, während die freigesetzte Liquidität trotz der niedrigen Renditen am Renten- und Geldmarkt geparkt wurde. Eine verständliche Strategie der Fondsmanager: Der Erfolg des ersten Halbjahres reichte ihnen offenbar für das ganze Jahr. Die Jahresernte wurde bereits im Hochsommer in den Scheuern eingelagert.
Der DAX ließ sich jedoch trotz der weltweiten Fragezeichen durch nichts aus der Ruhe bringen. Wie auf Schienen zog er weiter in Richtung 6 000 und darüber hinaus. Das durchschnittliche Kurs-Gewinn-Verhältnis der großen DAX-Werte, bezogen auf die Unternehmensgewinne des kommenden Jahres, stieg auf die unglaubliche Höhe von mehr als 25. Noch vor wenigen Jahren hatten wir bei einem Wert von 14 nasse Hände bekommen. Jetzt aber schien sich keiner über ein KGV von 25 aufzuregen. 25 Jahre lang mussten die Unternehmen nach dieser Rechnung den für 1999 geschätzten Gewinn pro Aktie erzielen, um diese Kurse zu rechtfertigen.
Angesichts dieser permanenten Kursexplosionen war mir und etlichen meiner Gesprächspartner auf dem Parkett mehr als mulmig zumute, und ich ließ die Zuschauer darüber auch nicht im Unklaren. Eine Konsolidierung der deutschen Börse, eine Atempause, war nach dieser lang anhaltenden Hausse dringend erforderlich. Das hatte nicht das Geringste mit Pessimismus zu tun. Auf lange Sicht blieb ich für den deutschen Aktienmarkt positiv gestimmt.
Die ablehnenden und kritischen Reaktionen der Zuschauer aber kamen wie erwartet. Wer als Anleger mit steigenden Kursen rechnet und deshalb kauft, ist halt leicht versucht, alle negativen Aspekte auf |111| den Finanzmärkten zu ignorieren. Nur positive Argumente werden akzeptiert.
Und die gab es nach wie vor, trotz des weltweiten Krisenszenarios: Im kommenden Euroland würde die Inflation ganz offensichtlich keine entscheidende Rolle mehr spielen, die
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