Greife nie in ein fallendes Messer
Unternehmen, eines nach dem anderen, die SAP-Software installieren.
Abbildung 6: Kurs der SAP-Vorzüge vom 1. 6. 1993 bis zum 25. 2. 1994
Karl-Egmont Niem, einer meiner ständigen Gesprächspartner vom Frankfurter Bankhaus Georg Hauck und Sohn, sonst eher für seine ruhige und bedächtige Art bekannt, geriet angesichts der langfristigen Perspektiven des Unternehmens fast ins Schwärmen. |174| Die Industrie brauche unbedingt einen schnellen Datenfluss, um im täglichen Wettbewerb die eigene Produktivität steigern zu können. Dieses sei nur mit einer weltweiten Standardsoftware möglich. Und genau auf diesem Gebiet habe sich die Software von SAP zu einem international anerkannten Industriestandard entwickelt. Eine ernsthafte Konkurrenz sei nicht in Sicht.
Das amerikanische Brokerhaus Merrill Lynch sah dies ein wenig anders: Diese paradiesischen Zustände, ohne Konkurrenten die Märkte weltweit abgrasen zu können, könnten sich schneller als erwartet ändern. Mit Oracle und Peoplesoft stünden potente Mitbewerber vor der Tür. Deswegen seien die Kurse der SAP-Aktien mehr als gut bewertet. Mit anderen Worten, Merrill Lynch hielt die Kurse für zu hoch.
An der Börse ging diese zurückhaltende Meinung als einzelne Stimme völlig unter. Die Mehrheit war auf Jubel gestimmt, und das mit gutem Grund. Jeden Tag wurden auf dem Parkett neue Gewinnschätzungen herumgereicht, die den Börsenliebling SAP in den Himmel hoben. Im dritten Quartal 1994 werde das Ergebnis vor Steuern um knapp 200 Prozent steigen! Wen wunderte es angesichts dieser Zahlen noch, dass die Kurse fast in einen »Crash nach oben« gerieten. Trotz der jüngsten optischen Verbilligung der Kurse im Verhältnis eins zu vier lagen die Stämme schon wieder bei 935 D-Mark, kosteten die Vorzüge 850 D-Mark. SAP-Chef Hopp versuchte, die Börsianer von ihrer Wolke sieben wieder auf die Erde herunterzuholen. Das vierte Quartal werde wesentlich schwächer abschneiden als das vorhergehende. Man sei schon mit einem Wachstum von 60 Prozent für das gesamte Jahr zufrieden. Hohe zweistellige Wachstumsraten gehörten also inzwischen auch für ihn zur Tagesordnung.
Aber irgendwann musste doch Schluss sein mit diesem Parforceritt der SAP-Aktien, irgendwann musste man wohl seine Gewinne realisieren, also verkaufen! Aber wann war der richtige Zeitpunkt? Während der Unternehmenspräsentationen in Orlando/USA vielleicht? Die jüngsten Kundenveranstaltungen der SAP in den Vereinigten Staaten waren offenbar riesige Erfolge gewesen, denn durch amerikanische Käufe erhielten die Kurse einen neuen kräftigen Schub. Aber |175| in diese Aufwärtsbewegung durfte man doch nicht verkaufen! Den Fehler hatte ich schon einmal gemacht, das musste reichen. Außerdem käme nach einem Verkauf die entscheidende Frage, wo man das frei gewordene Geld dann anlegen sollte. Welche Anlage verspräche ähnliche Renditen wie die SAP-Aktien? Mit Sicherheit gab es zurzeit kein Wertpapier, das genauso erfolgreich laufen würde. Also dann mit dem freien Geld am besten doch wieder auf SAP setzen? Aber warum dann erst verkaufen, um später zurückzukaufen? Außer erheblichen Verkaufs- und Kaufspesen hätten diese Aktionen wenig gebracht.
Vor solchen Problemen stehen börsentäglich viele Anleger. Ich habe für mich nach vielen leidvollen Fehlschlüssen eine eindeutige Antwort gefunden: Nur verkaufen, wenn das Geld für konkrete andere Zwecke dringend gebraucht wird oder wenn sich die fundamentale Meinung über eine Anlage grundlegend geändert hat. Die realisierten Gewinne zu wesentlich niedrigeren Renditen irgendwo parken, um dann zu einem späteren Zeitpunkt wieder einzusteigen, ist nur sinnvoll, wenn eine lang anhaltende Baisse vor der Tür steht, die eine Trendwende an der Börse einleitet. Angesichts der wirtschaftlichen Zukunft im neuen Euroland sehe ich aber zurzeit keine derartigen Gefahren für die europäischen Börsen.
Auf dem Börsenparkett ging es Anfang 1995 in den Gesprächen dennoch immer nur um eine Frage: SAP halten oder verkaufen? Vordergründig wurden die Kurse durch die Verkaufserfolge der neuen Standardsoftware R/3 nach oben getrieben. Eine SAP-Vorzugsaktie kostete inzwischen mehr als 1 000 D-Mark. Doch das erfolgsverwöhnte Lieblingskind der deutschen Börse spürte plötzlich Gegenwind, der, so paradox es klingen mag, durch die unglaublichen geschäftlichen Erfolge entfacht wurde.
In Deutschland hatten sich schon nahezu alle großen Industrieunternehmen dieses Produkt
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