Grenzen der Sehnsucht
sogar ganz wohl damals, mit ihrem schwulen Leben in der schwulen Szene. Allerdings entsprach das Kennenlernen der beiden nicht im entferntesten dem schwulen Kennenlern-Standard, der sich häufig durch eine gewisse Direktheit und ein ungebremstes Tempo auszeichnet.
„Liebe auf den ersten Blick war das nicht“, erinnert sich Guido. „Wenn ich an jemandem richtig interessiert bin, lass ich es langsam angehen.“
Das klingt sehr konventionell. Und wo sind sie sich das erste Mal begegnet?
„Im Krankenhaus, wir waren beide Patienten und merkten, dass wir uns ganz gut verstehen. Danach ging es als normale Freundschaft weiter. Zwischen uns ist erst mal lange nichts gelaufen. Thomas hat mich häufig besucht und ist um zehn Uhr abends nach Hause gefahren oder hat auf dem Sofa geschlafen. Erst nach fast einem Jahr sind wir uns näher gekommen.“
Ein weiteres hat es gedauert, bis sie zusammenzogen. Mit dem Gedanken, eines Tages auch noch gemeinsam Kinder bei sich aufzunehmen, hat keiner von beiden gespielt.
„Das hat sich alles erst später so ergeben“, sagt Thomas.
Inzwischen haben sie so viel Erfahrungen mit dem Kindererziehen gesammelt, dass jede italienische Mama grün anlaufen würde vor Neid. Allein vier Pflegekinder waren es an der Zahl, die vorübergehend bei den Meurers lebten. Im Unterschied zu Adoptivkindern bleiben Pflegekinder nämlich Mitglied ihrer Herkunftsfamilie, das Sorgerecht bleibt bei ihren ursprünglichen Eltern, zu denen sie manchmal zurückkehren. Zum Beispiel nach einer längeren Krankheit oder der Genesung eines Elternteils nach einem Unfall.
Heute leben zwei Kinder bei ihnen im Haus, oder vielmehr: Heranwachsende. Nadine kam vor gut einem Jahr hier an, und Christian ist jetzt schon über fünf Jahre hier, seit etwa seinem zehnten Lebensjahr. Für ihn haben Guido und Thomas inzwischen die Vormundschaft. Er ist der Neffe von Guido. Mit ihm kam die ganze Geschichte einst ins Rollen.
Angefangen hat alles mit einer beunruhigenden Nachricht, die sie eines Tages erreichte. Es ging das Gerücht um, dass der Sohn von Guidos Schwester irgendwo in Holland in verwahrlostem Zustand hause und nicht versorgt werde.
„Ich hatte den Kleinen acht Jahre nicht gesehen“, sagt Guido. „Ich machte mir Sorgen und fuhr gleich mit Thomas hin, um zu sehen, was los ist. Was wir dort vorgefunden haben, war so unbeschreiblich, das hat uns keiner geglaubt. Von den Eltern keine Spur. Wir nahmen ihn und brachten ihn zum Jugendamt, aber die holländischen Behörden fühlten sich für ein Kind mit deutscher Staatsbürgerschaft nicht zuständig, also packten wir seine Sachen und nahmen ihn mit nach Deutschland, wo man sich allerdings für den Jungen auch nicht zuständig fühlte.“
Gemeinsam versuchten sie, mit dem Jugendamt eine Lösung zu finden. Bis dahin sollte Christian bei ihnen Unterschlupf finden. Aus dem Provisorium wurde dann eine dauerhafte Lösung. Im Einvernehmen mit den Behörden entschieden sich Guido und Thomas, Christian bei sich zu behalten.
Die Entwicklung des Jungen verlief schließlich so positiv, dass das Jugendamt aufhorchte. Bei einem Besuch sahen sie eines Tages, dass ein Zimmer im Haus frei war, und so schlugen sie den Meurers vor, doch noch ein weiteres Kind aufzunehmen.
Thomas und Guido ließen sich das gut durch den Kopf gehen. Schließlich kamen sie zu dem Schluss, dass das keine schlechte Idee sei, auch nicht für Christian, der sich manchmal mit seiner Situation etwas einsam fühlte.
„Wir dachten damals, na ja, wenn wir ein Kind durchfüttern konnten, sollte ein zweites eigentlich auch kein Problem sein“, erinnert sich Thomas.
Doch die Bereitstellung von Mahlzeiten ist bei Pflegekindern noch das kleinste Problem. Man muss ihnen besonders viel Zuwendung entgegenbringen, mehr als anderen Kindern.
Viele von ihnen wurden von ihren Eltern vernachlässigt oder misshandelt, weil ein oder beide Elternteile mit einem Drogenproblem zu tun haben oder in Straftaten verwickelt sind. Manche Kinder wurden verprügelt oder in den Keller gesperrt. Ein Junge, den ihnen das Jugendamt einmal vermittelte, war sexuell missbraucht worden. Den wollten Thomas und Guido anfangs nicht aufnehmen; ihre Bedenken waren groß.
„Wir haben zu den Behörden gesagt: ,Meinen Sie nicht, dass ausgerechnet zwei schwule Männer die falschen Bezugspersonen für das Kind sind?’“
Dort teilte man die Befürchtung ganz und gar nicht.
„Wo sonst sollte der Junge wieder lernen, Vertrauen zu schöpfen, wenn
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