Grenzen der Sehnsucht
kam.
„Ich hab schon wieder ein paar Pfandflaschen am Straßenrand eingesammelt. Ich könnte nicht so einfach daran vorbeigehen, dazu bin ich viel zu schwäbisch. Das Sammeln von Leergut hat mir insgesamt schon einige Euro eingebracht.“
Nicht, dass man nun annehmen muss, Schäufele hätte das Aufstöbern von Leergut bitter nötig. Nein, mit dem Bild von den amerikanischen Obdachlosen, die auf den Straßen alte Pfanddosen einsammeln, darf man das nicht in Verbindung bringen. Unter Armut leidet Schäufele nicht. Er ist kaufmännischer Angestellter, zudem kam er vor ein paar Jahren über eine Erbschaft zu einem kleinen Vermögen. „Manchmal hab ich deswegen ein schlechtes Gewissen“, sagt er, weil er nämlich das Geld nicht aus eigener Leistung erwirtschaftet hat. Das kann einem echten Schwaben, der immer das Gefühl hat, sich um etwas verdient machen zu müssen, das Leben schon ein bisschen versauern – mehr noch als die Entdeckung, schwul zu sein.
Holger Schäufele wohnt in einer Einliegerwohnung, mitten in einer typischen Vorortsiedlung von Stuttgart, mit kleinen Ein- und Zweifamilienhäuschen und holzzaunumrandeten Vorgärtchen, vor denen die Pkws geparkt sind, die vermutlich samstags regelmäßig gewaschen werden.
Wie muss man sich Schäufele vorstellen? Sein Gesicht und sein Mienenspiel, ja, sogar seine Bewegungen lassen einen an Tom Hanks denken, und zwar nicht in irgendeiner Rolle, sondern in dem Film Big, also in der Rolle des kleinen Jungen, der eines Morgens überrascht aufwacht und sich im Körper eines erwachsenen Mannes wiederfindet. Und wenn man Schäufele eine Weile lang zuhört und seine schelmischen Augen funkeln sieht; ja, wenn man ihn beobachtet, wie er von seiner Sammelobsession erzählt und voller Begeisterung mit seiner Super-8-Kamera seine alltägliche Routine auf Zelluloid festhält, seine Touren auf der Schatzsuche im Sperrmüll, dann ist es gerade so, als zappelte da ein Junge von vielleicht 14 oder 15 Jahren herum, der erst vor kurzem überrascht im Spiegel feststellen musste, sich auf einmal im Körper eines 45-Jährigen zu befinden.
Seine Dreizimmerwohnung ist von einem praktisch funktionalen Haushalt, wie man ihn im Schwäbischen gerne hat, weit entfernt. Stattdessen erinnert sie an eine spektakuläre Installation des amerikanischen Künstlers Jason Rhoades, die sich creation myth nennt, der Schöpfungsmythos, eine auf über hundert Quadratmetern aufgehäufte Sammlung von Alltagsgegenständen, von Werkzeugen und elektronischem Krempel, wild zusammenmontiert als ein gigantisches Symbol für den materiellen Überfluss in der modernen Welt. Zwischendrin stapeln sich bei Rhoades mit bunten Pornobildchen beklebte Holzscheite, die andeuten sollen, wie in diesem Kreislauf die menschliche Sexualität als Oberflächenreiz verheizt und als Energielieferant ausgebeutet wird.
Die anstößig beklebten Holzscheite gibt es in Schäufeles Wohnung natürlich nicht, aber auch hier regiert ein nach Ordnung schreiendes Chaos aus Krims und Krams. Kisten voller Zeitschriften und Bücher, die sich bis unter die Decke stapeln und das Tageslicht vom Eindringen abhalten; alte Radios und Fernseher, Videorekorder und anderes elektronisches Gerät. Nichts davon ist neu, fast alles stammt aus zweiter Hand.
Für meinen Besuch hat er extra den Tisch und das Sofa freigeräumt und von der Eingangstür bis dahin einen Weg gebahnt, einen Pfad durch die beinahe undurchdringliche Kisten- und Elektromaschinenlandschaft. Wer unter Platzangst leidet, würde hier sofort einen Anfall kriegen.
„Also, mich stört es überhaupt nicht, dass hier alles so vollgestopft ist. Die meisten meiner Freunde auch nicht, aber es gibt einen, der sich weigert, zu mir zu kommen“, erzählt Schäufele, der schon gar nicht mehr alles in Regalen, Schachteln und Schränken verstauen kann, was er von seinen Beutezügen durch den Sperrmüll mit nach Hause bringt: Lektüre jeglicher Art, Vinyl- und Schellackplatten, Super-8- und 16-mm-Filme, Videos, Laserdiscs und Bildplatten. Alles, was im weitesten Sinne mit Medien und Technik zu tun hat, interessiert ihn besonders. Darunter auch ausgesprochene Raritäten.
Eine Art Tonband etwa, das auf einen Stahldraht aufnimmt. Oder ein Tefifon, ein Musikabspielgerät mit Schallbändern aus den fünfziger Jahren.
Nicht zu vergessen der mit Groschen gefüllte Spielautomat von 1952.
Nur schwer kann er sich von etwas trennen – fast an allem hängt eine persönliche Erinnerung.
Wie zum Beispiel an
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