Grenzen der Sehnsucht
Erschütterung der gewohnten Sichtweise, bei der man sich als Erstes zu fragen scheint: „Mann oder Frau?“ Dem schwulen Erfahrungshorizont dürfte das hingegen weniger fremd sein.
Mehr von seinen Werken lagern in einem Kellerraum seines Wohnhauses im Stadtteil Laim, keine zwanzig Minuten mit der U-Bahn von der Innenstadt entfernt. Dort zeigt er mir einen Bilderzyklus aus den neunziger Jahren. Kontrastreiche Farben, kantige Konturen und verzerrte Formen sind sein Kennzeichen.
Auffällig viel blau. Man denkt an den Himmel und den Ozean, Ausdruck der Sehnsucht nach einer Sphäre, in der sich der Körper von seiner Schwere löst. Ein Symbol, das Derek Jarman in seinem letzten Film verwendete: Außer einer blau leuchtenden Leinwand ist nichts zu sehen. Für den an Aids erblindeten Regisseur war Blau die Farbe der Befreiung. Eine Vision des eigenen Todes, der ihn bald darauf heimsuchte.
Auch auf diesen Bildern hängt die Farbe mit Krankheit und Tod zusammen. Und auch hier geht es um Aids. Der Künstler hat darin einen Teil seiner eigenen Biografie verarbeitet.
Eigentlich stammt de Beer aus den Niederlanden, aber schon Ende der achtziger Jahre hat er der Liebe wegen seine Heimat verlassen und sich nach München aufgemacht. Heftig und intensiv war die Beziehung, mit allem, was dazugehört: Harmonie und Glück, aber auch Szenen der Eifersucht. Mehr als vier Jahre sollte das Glück nicht währen; der Liebhaber erkrankte bald darauf und starb.
„Das war eine sehr prägende Zeitspanne in meinem Leben, die meinen Blick bestimmt hat wie sonst nur wenige Ereignisse.“
Auf einem Bild liegt ein Mann nackt und schutzlos auf dem Sterbebett, für sich hat er mit dem Leben bereits abgeschlossen. Auf einem andern schwingt einer das Tanzbein mit Henrietta, einem weiblichen Pendant von Heinrich, der in Holland eine Symbolfigur für den Tod ist. De Beer fand, es war mal an der Zeit, ihn als Frau zu zeigen.
Düster und furchteinflößend wirken die Bilder nicht. Sie wollen auch nicht anklagen oder Mitleid erregen. Eher vermitteln sie den Eindruck, als ginge es darum, sich mit dem Unvermeidlichen zu arrangieren.
„Für mich ist der Tod nicht nur etwas Schreckliches“, sagt de Beer, der sich damit auch in seinen Jobs bei der Aids-Pflege und in der Psychiatrie auseinander setzte. „Es geht dabei um so viel mehr. Um die Intensität der verbleibenden Zeit.“ Für ihn blieb das auch noch lange nach dem Tod seines Freundes ein Thema. Eines, das eine Zeit lang alles andere in den Schatten stellte.
Die Aids-Bilderzyklen, die er hier im Keller lagert, sind sein Beitrag zur schwulen Trauerkultur der späten achtziger und frühen neunziger Jahre. Damals war das öffentliche Trauern längst aus dem modernen Großstadtleben in die Grenzen von Hospitälern und Friedhöfen abgedrängt worden. Ansonsten galt es als eine Sache der Privatsphäre.
Mit Aids hatte ein allmählicher, aber steter Wandel eingesetzt, den die Sterbenden, viele von ihnen noch keine dreißig, selbst ins Rollen brachten. Abschiedszeremonien wurden nunmehr individuell und im Voraus geplant: Freunde sollten Briefe an den Verstorbenen lesen, seine Lieblingssongs spielen und sich Anekdoten erzählen, die auch lustig oder skurril sein durften. Kollektiv gedachte man der Toten durch Trauermärsche und künstlerische Aktionen an öffentlichen Orten.
Aids hat den Umgang mit Krankheit und Tod in der Gesellschaft insgesamt verändert, und die schwul-lesbische Szene hat dazu den entscheidenden Anstoß gegeben. Glücklicherweise hat das Massensterben an Aids in Deutschland inzwischen aufgehört, doch der Verlust an Gleichgesinnten, einer ganzen Szenegeneration, steckt vielen immer noch in den Knochen.
„Ich bin froh, dass mein Leben nicht mehr nur aus der Beschäftigung mit Krankheit, Tod und Leiden besteht“, sagt de Beer und schließt den Kellerraum ab, was mir in diesem Moment wie eine Metapher für einen Lebensabschnitt erscheint.
Ein paar Etagen weiter oben hat man an diesem Abend einen Blick auf das Alpenpanorama, das hinter der Stadt aufragt. Die Luft ist klar, der Himmel violett gefärbt. „Ist das nicht phantastisch?“, schwärmt de Beer, als wir auf seiner Terrasse stehen, und atmet einmal tief durch. „Dafür muss man eine Wohnung im vierten Stock haben. Für mich ist das ein Geschenk.“
De Beer spricht ein bemerkenswertes Deutsch, eine Art Mischung aus holländischem Akzent und bayrischer Wortwahl, zu der Ausdrücke wie „Jo mei“ wie selbstverständlich
Weitere Kostenlose Bücher