Grenzfall (German Edition)
skypen und ihr meinen Tanz vorführen. Sie kennt Leute in Indien, die solche Filme machen.«
»In Indien?« Adriana kommt nicht ganz mit.
»Mama.« Lili stemmt die Hände in die Hüften. »Mattie ist Indiana, verstehst du? Ihr Vater kommt aus Bombay. Sie ist eine von uns.«
Meti? Eine von uns? Adriana schüttelt den Kopf. Niemals.
Sie braucht eine Dusche. Dann wird sie Frühstück machen. Vorräte überprüfen. Den Hof fegen. Es gibt immer zu tun. Und noch was. Adriana will alle Fahrtenbücher von Vater lesen, bevor Georgel sie mitnimmt. Sie hat sie gestern noch vor dem Schlafengehen aus dem Regal geholt. Den Staub abgewischt. Nach Jahreszahlen geordnet.
»Kannst du mir später helfen, Tochter?«
Lili nickt.
Adriana will ihrer Tochter beibringen, Brot zu backen.
15. Juli 2012, Neukölln
Berlin, Deutschland
Nadina kommt aus dem dunklen Café und blinzelt in die Sonne. Erst mal ’ne Kippe. Autos rumpeln die gepflasterte Straße bergab. Mann, war das eine Tortur da drin. Eine Stunde Gelaber, und alles einfach nur scheißkompliziert. Sie darf in Deutschland studieren. Aber erst muss ihr Abschluss offiziell geprüft werden. Sie muss einen Deutsch-Vorbereitungskurs machen. Eine Prüfung ablegen. Darf nebenbei arbeiten, aber nur bis zu einer Grenze, die nicht zum Leben reicht. Auf dem Konto ihres Vaters sind noch sechshundert Euro, dazu die zweihundert von Gesine.
»Hallo?« Eine Frau mit verfilzten langen Haaren steht neben ihr. Sie hat Piercings in der Nase und in den Augenbrauen. Ihr rechtes Bein ist unterhalb der abgeschnittenen Jeans tätowiert. Coole Nummer.
»Hi.« Nadina sieht sich um. Die Frau muss auch aus dem Vereinsladen gekommen sein.
»Holger hat mir gesagt, dass du gerade in der Beratung warst.« Sie spricht langsames Englisch mit einem starken Akzent.
»Ja.« Vorsichtig. Was will die von ihr?
»Willst du hierbleiben?« Sie holt einen Beutel Tabak raus und beginnt sich eine Zigarette zu drehen. Nadina sieht ihr dabei zu. Sie ist geschickt.
»Ist das billiger als Filterzigaretten?«
»Na logisch.« Die Frau sieht sie an. »Hast du Feuer?« Nadina gibt ihr das Feuerzeug. »Falls du eine Bleibe suchst, bei uns ist gerade was frei. Wir sind ein Hausprojekt. Vegan und antikapitalistisch.« Sie streckt ihr die Hand hin. »Sabine.«
»Nadina.« Sie schütteln sich die Hand. »Danke, aber ich muss zurück.«
»Ach so.« Sabine gibt ihr das Feuerzeug und geht langsam die Straße runter.
Nadina sieht ihr nach. Sie verstehen nicht. Raluca nicht und diese Sabine auch nicht. Sie kann Mama nicht im Stich lassen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wieder so was wie mit Mihai passiert. Ein teures Medikament. Holz für den Winter. Ein neuer Herd. So eine Familie kann sich keinen leisten, der jahrelang studiert. Vielleicht werden sie irgendwann eine Entschädigung bekommen. Volker hat gesagt, das kann dauern. Jahre, in denen Nadina älter wird, heiratet und Kinder bekommt. Wie Mama.
Plötzlich überfällt sie das Heimweh. Sie muss unbedingt jetzt sofort Mamas Stimme hören. Auch wenn das Handy danach alle ist. Sie zieht es aus der Tasche. Sieht, dass eine SMS angekommen ist. Eine rumänische Nummer, die sie nicht kennt. Hoffentlich ist nichts.
Die SMS ist von Adriana. Sie ist lang. Ein Auszug aus dem Fahrtenbuch ihres Vaters.
»Alle werden erleichtert sein, wenn sie es sicher auf die andere Seite geschafft haben. Besonders Nicu aus Bra ş ov. Lass mich dir von ihm berichten. Ich nenne ihn Nicu den Träumer. Er hat hier in Deutschland Fenster und Häuser gebaut. Sein Traum ist es, so ein Haus für seine Familie zu bauen.«
Just gonna stand there and hear me cry.
Was ist denn jetzt los? Steht sie hier mitten auf der Straße und heult. Schluss jetzt. Nichts und niemand in diesem Land wird sie davon abhalten, Architektur zu studieren. Ganz unten sieht sie gerade noch Sabine um die Ecke biegen. Nadina läuft los. Die Ballerinas nerven. Sie nimmt sie in die Hand und rennt barfuß weiter.
»Hey, warte mal!« Sie braucht ein Dach über dem Kopf. Was immer das auch ist, vegan und antikapitalistisch. Sie wird es schon lernen.
5. August 2012, A 13 Richtung Praha
Thüringen, Deutschland
»Hast du schon gepackt?«
»Gestern Abend, darling.« Cal dreht den Laptop so, dass sie zwei Koffer sehen kann.
Mattie verdreht die Augen. »Cal, wir gehen nicht auf Modenschau. Das sind arme Leute.«
»Ich dachte, ich soll den Bollywood-Produzenten raushängen lassen.« Cal ist auch ’ne Diva. »Meinst du, ich habe
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