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Grenzfall (German Edition)

Grenzfall (German Edition)

Titel: Grenzfall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merle Kröger
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Füßen.
    »Ich hab alle weggeschickt«, sagt Mama und brüllt den Jungen an, der sich über den Koffer hermachen will. »Raus jetzt! Ihr könnt später wiederkommen. Am Abend!« Der Sandkastenrocker zieht eine verspiegelte Sonnenbrille aus der Hemdtasche, setzt sie auf und versucht einen coolen Rückzug. Als er sich umdreht, liest sie auf dem Portugal-Trikot: Ronaldo und die Sieben. Richtig, Cristi heißt er.
    »Setz dich hierhin.« Ein Befehl, keine Widerrede. Sie lässt sich aufs Sofa fallen. Mama verschwindet nebenan in der Küche und kommt mit einem Tablett wieder. Brot, Käse und ein paar verschrumpelte Tomaten. Das soll alles sein? Dafür hat sie geschuftet wie ein Ochse und ein verdammtes Abschlusszeugnis mitgebracht? »Der Herd ist kaputt, Kind. Der letzte Regen ist durch das Dach gegangen und hat Löcher ins Eisen gefressen. Jetzt fällt das Holz durch.«
    Nadina seufzt. Es hat nie was anderes gegeben. Als hätte das Haus auch Löcher im Boden, durch die das Geld fällt. Mama zieht wortlos ihr T-Shirt aus. Nadina muss den Blick abwenden. Es ist schlimmer geworden. Die Wirbelsäule sieht aus wie eine Schlange, die unter der Haut liegt. »Die Schmerzen.« Mama sagt das so, als würde sie über das Wetter reden. »Jede Nacht. Ich kann nicht mehr schlafen. Ich kann nicht mehr arbeiten.« In den letzten Winterferien ist Mama noch einmal die Woche ins Fußballstadion gelaufen und hat ganz allein die riesige Tribüne, die Toiletten und die Kabinen für die Spieler geputzt.
    »Ich gehe arbeiten. Die Callcenter suchen Leute, die Englisch und Französisch können. Du ruhst dich aus.« Sie nimmt das Zeugnis aus der Mappe und gibt es Mama.
    Die Brille liegt noch in der Schublade. Sie setzt sie umständlich auf. Trotzdem hält sie das Blatt weit weg. Ihre Augen werden auch immer schlechter. »Du bist wie dein Vater. Immer wollte er noch mehr lernen über seine Maschine. Lernen, lernen. Und wen haben sie zuerst entlassen? Die Ţigani.«
    Nadina seufzt. »Mama, das war damals. Heute zählen andere Sachen. Außerdem sehe ich nicht aus wie eine –«
    Mamas Augen schießen grünes Feuer. Ohne ein weiteres Wort nimmt sie den leeren Teller und verschwindet. »Es ist besser, wenn deine Brüder dich nicht sehen«, ertönt die Stimme hinter dem Vorhang. »Sie kommen meistens zwischen vier und sechs, nach der Arbeit. Wenn es welche gibt.«
    »Es tut mir leid, Mama!« Sie hat gelernt, die Tränen runterzuschlucken.
    »Du bist jung und unverheiratet. Es wird sich herumsprechen, dass du wieder da bist.«
    Nadina versteht. »Ich will nicht heiraten. Ich will noch keine Kinder.«
    Als sie hochsieht, steht Mama wieder in der Tür. »Was ist daran schlimm?«, fragt sie, und ihre Stimme klingt wie Metall. »So ist es immer gewesen.«
    »Ich will Architektur studieren.« Auf der Abschlussfeier haben alle so geredet. Ich mach dies und das. Ins Ausland gehen. Work and Travel. Und sie hat mitgemacht. Einfach irgendwas gelabert. Na ja, hier interessiert das sowieso keinen.
    »Sicher«, sagt Mama. Ihre Gedanken sind schon ganz woanders. Das Zeugnis verschwindet in der Schublade, zusammen mit der Brille. Wertloses Zeug.
    Nadina steht auf. In der engen Hütte hat sie das Gefühl, keine Luft zu kriegen. Raus in den Hof. Noch eine Kippe. Auch zu eng. Zu laut. Überall Stimmen. Geräusche. Gerüche. Armut. Sie versucht sich zu erinnern. Im Stadtzentrum gibt es Internetcafés. Das Wechselgeld vom Busticket reicht vielleicht noch für ein paar Stunden. Eine Weile verschwinden, zwischen Touristen und den Jugendlichen aus den Wohnblöcken.
    Auszeit.

11. Juni 2012, Gemeinde Peltzow
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
    Sie hat es getan.
    Draußen vor dem Fenster Windräder. Die gab es damals nicht. Nicht hier.
    »Nächste Abfahrt.« Liviu ist aufgewacht und gibt kurze Anweisungen an seinen Schwager, der jetzt fährt. Sie haben sich abgewechselt, in einem Rutsch durch von Zaragoza. Adriana weiß, dass sie wegen ihr einen Umweg von mehreren Stunden machen. Sie hat die Schilder nach Berlin gesehen, heute früh. Jetzt steht die Sonne hoch.
    Fast bedauert sie es, als der Wagen auf die schlecht geteerte Abfahrt rumpelt. Die Zeit auf der Autobahn hat ihr gut getan. Das leise Gemurmel der Männer vorn, der Rauch ihrer Zigaretten. Viele Stunden zum Nachdenken.
    Liviu glaubt natürlich, Florin wüsste Bescheid. Sie sind im Dunkeln aufgestanden, ihr Mann schlief noch. Keine Ehefrau – ganz sicher nicht Adriana die Stille – läuft einfach fort. Sie riskiert zu

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