Grenzfall (German Edition)
eine schicke Konsulatswohnung in South Bombay, wo Nick sich öfter blicken ließ, als gut für ihn war. Sie wollte Nick, daran ließ sie keinen Zweifel. Seine Beziehung zu Cal ignorierte sie einfach. Er brauchte dem Impuls nur nachzugeben. Seine neue Liebe gefiel ihm umso besser, weil Jasmins Vater Kamal tobte und Mattie jetzt sozusagen seine Schwiegermutter war.
»Nikolaus, wach auf.« Klar, er ist eingeschlafen. Und sie hat ihn erwischt. Ihre Augen sind dunkel vor Wut. Azim klammert sich an sie, seine volle Windel stinkt drei Meilen gegen den Wind.
»Scheiße, Jasmin, tut mir leid. Setz dich doch. Willst du was trinken?«
Sie schüttelt den Kopf und bleibt stehen. »Du riechst nach Bier.« Jasmin trinkt kaum Alkohol, nicht weil sie irgendwie bekennende Muslimin ist, sondern aus gesundheitlichen Gründen. Die Disziplin, die sie von klein auf beim Kung-Fu gelernt hat, erstreckt sich auf alle Bereiche ihres Lebens.
Nick fühlt sich uralt. »Gibt es nicht die Technik des betrunkenen Mönchs? Die wollte ich mal ausprobieren.«
Jasmin trägt ihre Haare jetzt lang, und in letzter Zeit hat sie öfter Röcke an als Hosen. Leute drehen sich nach ihr um. Sie legt Azim auf dem Stuhl ab und hockt sich hin, um die Windel zu wechseln. Jeder Handgriff sitzt.
Nick fühlt, wie er ihre Aufmerksamkeit verliert. Also platziert er vorsichtig den Sprengsatz. »Mattie braucht einen Job. Weißt du nicht was?«
»Was soll denn das jetzt schon wieder?«
Nick lehnt sich zurück. Er hat, was er wollte. »Sie braucht einen richtigen, gut bezahlten Job. Heimkosten für Emma.«
Jasmin schüttelt unwillig den Kopf. »Mal abgesehen davon, dass sie alt genug ist, kann sich doch Kamal darum kümmern. Was geht uns das an?«
Nick nimmt seine Sonnenbrille ab. Ihm ist plötzlich kühl. Die Sonne ist hinter den Bäumen verschwunden. »Sie wird ihn verlassen. Ich hab’s ihr angesehen.«
Jasmin dreht sich um. Für einen Moment sieht er Angst in ihrem Blick aufflackern. »Wieso? Wo ist sie denn?«
»Noch ist sie in Kiel. Wir haben heute geskypt.«
Sie versucht ihren Ausrutscher zu überspielen und lacht gekünstelt auf. »Ach, und du kannst über Skype ihre Zukunft lesen?« Sie hat sich wieder im Griff. »Mattie hat gerade ihren Vater verloren. Klar, dass es ihr nicht so gut geht.«
Er schüttelt den Kopf. »Vergiss es, Jasmin. Ich kenne Mattie besser als jeder andere. Ich kann in ihr lesen wie in einem Buch.«
Plötzlich bricht es aus ihr heraus. »Und warum hast du dann nicht Mattie geheiratet?« Trotz des Kindes auf ihrem Arm sieht sie aus wie ein wütendes kleines Mädchen.
Nick ist nicht nach Versöhnlichkeit zumute. Er weiß genau, was sie jetzt hören möchte. Aber er will es ihr nicht geben. »Ich weiß auch nicht.« Er zuckt die Schultern. »Irgendwie war nie der richtige Moment.«
Azim spürt die Gewitterfront, die zwischen seinen Eltern aufzieht, und fängt an zu weinen. Nick würde sich am liebsten die Ohren zuhalten, oder noch besser: wegrennen. Weg aus diesem Vorzeigeleben.
»Nikolaus!« Ihre Stimme dringt wie aus weiter Ferne zu ihm durch. Sie hat Azim über ihre Schulter gelegt und lässt ihn vorsichtig auf und ab wippen. Die Härte ist aus ihrem Blick verschwunden. »Ich höre mich um, okay? Können wir jetzt nach Hause gehen?«
Er nickt. Und dann gehen sie nach Hause. Wie jeden Abend.
9. Juni 2012, Braşov
Transsilvanien, Rumänien
»Mist!« Draußen ist es ja hell! Da vorne um die Ecke, dann kommt das Fußballstadion. Nadina L ă c ă tu ş reißt die Kopfhörer aus den Ohren und stopft das Handy in die Tasche ihrer Trainingshose. Sie tritt dem Opa neben ihr auf die Füße.
Der Alte schreckt aus dem Schlaf. »Was?«
Doch Nadina ist schon weiter. »Stopp!«
Der Fahrer steigt auf die Bremsen. Gerade noch geschafft.
Der Rollkoffer knallt auf die Straße. Ihr restliches Geld ist dafür draufgegangen, auf dem chinesischen Markt in Bucure ş ti. Darin ihre Sachen, die sich über die letzten vier Jahre angesammelt haben, Stifte, Haarspangen und ein Plastikfußball für die Kleinen von ihren Brüdern. Jeden Leu abgespart vom lausigen Almosen für die Stipendiaten. Taschengeld nennen sie das. Ein Witz. Raluca, die das nur für den Kick macht, hat ihr gezeigt, wie man bei H&M die Sicherungen aus den Klamotten fummelt. Sonst würde Nadina heute noch denselben Rock tragen wie an dem Tag, als sie wegging.
Der Bus hustet schwarzen Qualm und verschwindet in Richtung Innenstadt. Auf einmal kriegt sie den Horror. Hinterherrennen.
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