Grenzfall (German Edition)
viel. Ihre Töchter. Sie will nicht allein sein. Fünfzig Euro hat sie mitgenommen, mehr nicht. Adriana hat Liviu erklärt, sie möchte sich ein eigenes Bild von der Lage in Berlin machen, Möglichkeiten sondieren. Florin wolle noch ein paar Tage länger auf den Vertrag warten. Liviu hat keine Fragen gestellt. Erst als sie schon in Deutschland waren, hat sie ihn gebeten, sie an dem Ort abzusetzen, wo ihr Vater starb.
Plötzlich durchfährt sie ein Ruck. Kein Zweifel. Dasselbe Dorf. Kirche ohne Turm. Es sieht noch genauso aus wie vor zwanzig Jahren.
Liviu dreht sich um. »Bist du sicher, Adriana Voinescu?« Er gibt sich keine Mühe, seine Skepsis zu verbergen.
»Ja.« Ihre Stimme klingt fest. In ihr sieht es anders aus.
Er reicht ihr einen Zettel. »Meine deutsche Handynummer. Ruf mich an, wenn du in Berlin bist. Du kannst zu Fuß rüber nach Polen gehen –«
»Und den Zug nach Berlin nehmen. Regionalexpress. Ich habe es mir gemerkt.«
»Man soll die Toten ruhen lassen. Bringt Unglück.« Sie kann sein Gemurmel kaum verstehen, er hat sich wieder nach vorn gedreht.
Da! Die Straße knickt nach rechts ab, die Brücke über die Autobahn. Dieser verfluchte Ort. Sie braucht die Bilder ihres Traums nicht heraufzubeschwören, um ihn zu erkennen. Das Feld links hinter den letzten Häusern. Es steht wieder Getreide darauf. Und Windräder. Hoch ragen sie in den Himmel. Verdunkeln die Sonne. »Hier rechts kannst du halten.«
Der Schwager bremst ab und biegt auf einen Feldweg ein. Der Motor verstummt. Es ist still. Die Männer auf dem Vordersitz haben Bartstoppeln und rote Augen.
»Es ist gut«, sagt Adriana. »Danke, mein Freund.« Sie steigt aus und läuft los, ohne sich umzusehen. Sie geht in das Feld, einfach geradeaus. Das Getreide reicht ihr bis über die Knie. Sie schließt die Augen, berührt die Ähren. Dasselbe Gefühl. Augen auf. Lässt sich von ihrer Erinnerung leiten. Das Geräusch der Windräder treibt sie an. Ffffffft. Fffffft. Plötzlich streift sie der Schatten eines Flügels. Fffffft. Es ist ein Gefühl, als würde sie in der Mitte durchgeschnitten. Ihr Herz setzt aus.
Dann schlägt es wieder.
Fffffft. Ffffft. Sie fühlt sich verletzlich. Schutz suchen. Schnell tritt sie aus der Reichweite des letzten Schattens, den Blick weiter auf den Boden geheftet. Wo war die Stelle? Da drüben?
Alles sieht gleich aus. Was will sie hier? Ihr Mut verlässt sie schlagartig, und sie setzt sich zwischen die Halme. Sie ist wieder vierzehn. Ihr ist nach Weinen zumute, doch sie weiß nicht, wie das geht.
»Ist Ihnen nicht gut?«
Wie elektrisiert springt sie auf. Eine Stimme, nicht laut. Alt, wie Pergamentpapier. Diese Sprache, die sie geschworen hat zu hassen, zu vergessen. Und die doch so viele Jahre in ihr geschlummert hat wie ein unsichtbarer Parasit.
»Hier bin ich. Kommen Sie doch näher!«
Orientierung. Vor ihr das Feld, die Windräder. Die Straße, jetzt rechts. Langsam dreht sie sich um. Auf der Flucht vor den Schatten ist sie viel zu nah an die Häuser des Dorfes gekommen. Ein Zaun, dahinter eine Gestalt, ganz dünn und krumm. Und ein Hund, der ruhig neben ihr steht. Zögernd setzt sich Adriana in Bewegung.
Es ist eine Frau. Ihre Haare sind silbern und kurz geschnitten. Sie trägt Hemd und Hose, wie ein Mann. Ihr Kopf liegt schräg, wie bei einem Vogel. Ihre hellen Augen frei von Angst, neugierig.
»Möchten Sie ein Glas Wasser? Kommen Sie herein, da ist eine Pforte.«
Adriana folgt dem mit Mühe ausgestreckten Arm den Zaun entlang. Warum traut sie der Frau? Sie traut niemandem in diesem verfluchten Land!
Als sie die Tür durchschritten hat, geht die Alte schon über ihren winzigen Hof. Ganz langsam geht sie. Der Hund beschnüffelt Adrianas Rock, sein Gesicht ist weiß vom Alter. Er wedelt kurz mit dem Schwanz und folgt seiner Herrin. Sie steigt ein paar Treppen zur überdachten Veranda hinauf. Schritt für Schritt.
Dann sitzen sie in einem Vorbau mit großen Fenstern. Ein alter Tisch mit einer Holzbank rundherum, darauf Kissen, mit einem dunkelgrünen, schimmernden Stoff bezogen. Alles wirkt alt und zerbrechlich, die Frau, die Möbel, sogar der Hund. Nur der Blick aus den hellen Augen ist fest. Wieder muss sie an einen Vogel denken.
»Verstehen Sie mich?«
Adriana nickt. Die Sprache kommt an, doch es formt sich keine Antwort in ihrem trockenen Mund. Sie trinkt von dem Wasser.
Die Vogelfrau sieht ihr zu. »Ich möchte Ihnen etwas erzählen.« Sie spricht leise und deutlich. »Als junges Mädchen
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