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Grenzfall (German Edition)

Grenzfall (German Edition)

Titel: Grenzfall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merle Kröger
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ihr und hält ihr ein Bündel hin, ebenso verschnürt mit grauem Band wie das andere. Doch dies ist kein bedrucktes Papier. Es sind einzelne Blätter, weiß und an den Rändern dunkel. Sie riechen nach Feuchtigkeit und –
    Zögernd greift Adriana nach dem Packen.
    »Der Wind hat sie damals gegen unseren Zaun geweht. Da habe ich sie nach dem Brand gefunden. Ich konnte die Schrift nicht lesen, also habe ich sie weggelegt, falls die Polizei sie sehen will. Aber es kam ja nie jemand. Ich hatte sie ganz vergessen. Bis ich sie neulich zwischen meinen Büchern gefunden habe.«
    Die Schrift. Sie kennt diese Schrift! Er hat sie immer seine Fahrtenbücher genannt. »Meine liebe Adriana, das Haus ist leer ohne euch hier in Turnu Severin«, der Text verschwimmt vor ihren Augen. Weg, schnell weg von hier.
    »Ist schon gut, mein Kind.« Die Vogelfrau steht immer noch da, den Kopf schräg. Sie reicht Adriana gerade bis zur Schulter. »Nimm sie mit, sie sind ja dein.«
    Adriana kann nicht sprechen. Also folgt sie ihrem Gefühl, nimmt den Kopf der Frau in ihre Hände, ganz vorsichtig, und küsst sie auf die Stirn.
    Dann verlässt sie das Haus. Ihre Stiefel gehen wie von selbst die Stufen hinab. An der Gartentür dreht sie sich noch einmal um. Die Frau und ihr Hund stehen im Eingang und sehen ihr nach. Die Frau lächelt. Adriana hebt die linke Hand zum Gruß. In der Rechten hält sie den Prospekt und die losen Seiten aus dem letzten Fahrtenbuch ihres Vaters.
    »Meine liebe Adriana.«
    Jedes seiner Worte gehört ihr. Ihr ganz allein.

11. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
    Gesine Matthiesen tritt auf den leeren Schulhof. Eine kräftige Bö fährt ihr ins Haar und bläst ihr ein paar Strähnen ins Gesicht. Von Jahr zu Jahr schimmern sie silberner. Ungeduldig wischt sie die Haare und den Gedanken beiseite. Eitelkeit ist überflüssig, der Lauf der Zeit lässt sich nicht aufhalten. Dunkle Wolken haben sich vor die Sonne geschoben, von der Seeseite her grollt es dumpf. Der rote Tartan des Basketballfeldes leuchtet im Gewitterlicht.
    »Tschüs, Frau Matthiesen!«
    Sie sieht noch einmal zurück. Kristin und Beata winken ihr zu. Die Mädchen gehören zu der Projektgruppe, die sie an der Hannah-Arendt-Europaschule leitet. Seit Jahren macht sie mit Freiwilligen aus der Zehnten jeden Sommer nach den Ferien die Ausstellung Minderheiten in der Region Kollwitz . Besonderer Anreiz ist natürlich die anschließende Exkursion in ein anderes EU-Land, finanziert mit Projektmitteln aus Brüssel. Dieses Jahr hat sie gemeinsam mit dem Lehrerkollegium entschieden, die Ausstellung über Sinti und Roma zu machen. Im Herbst geht es für eine Woche nach Bukarest. »Denkt ihr bitte an den Grundriss der Aula zum nächsten Mittwoch?«, ruft sie den Mädchen zu.
    »Ależ tak!!«
    Gesine lächelt. Die Schüler lernen hier zweisprachig, Deutsch und Polnisch. Mitte der Neunziger stand die Oberschule in Kollwitz-Fichtenberg vor der Schließung, weil es zu wenig Schüler gab. Gesine war Vorsitzende des Elternbeirats, Felicitas ging damals in die achte Klasse. Die Lösung lag auf der Hand, auch wenn sie sich damit hier keine Freunde machte. Nur mit Pendlern aus dem nahe gelegenen Szczecin konnte man die Mindestzahlen aufbringen. Von Haus zu Haus hat sie Überzeugungsarbeit geleistet. Am Ende mussten selbst ihre schärfsten Gegner einsehen, dass sie recht hatte.
    Es fängt an zu regnen. Gesine zieht die Kapuze ihrer roten Outdoorjacke über den Kopf. Heute gehört Polen zur EU, die Grenze ist offen. Die Szczeciner kaufen auf der deutschen Seite Wohnungen, weil es billiger ist. Man muss das pragmatisch betrachten. Letztlich kommt es den Kollwitzer Steuereinnahmen zugute. Sie läuft weiter im Schutz des neu gebauten Deichs, an den Ostseeterrassen vorbei. Wie ausgestorben der Kinderspielplatz. Nur ein paar Graugänse lagern vor dem kürzlich angelegten Biotop. Zu viele sind es geworden in den letzten Jahren. Umweltschutz sollte in vernünftigen Maßen passieren. Sie sind naiv gewesen, damals nach der Wende. Sind den Grünen ja quasi blindlings hinterhergelaufen. Eigentlich schade, dass das Neue Forum wie so vieles nicht überlebt hat.
    Als sie am überdachten Kiosk vorbeihastet, sieht sie die üblichen Verdächtigen vor Bier und Korn hocken. »Schönen Tag auch, Frau Pastorin«, ruft einer.
    Gesine hebt grüßend die Hand, zögert einen Moment. Nein, sie werden nicht erwarten, dass sie bei diesem Wetter stehen bleibt und Klönschnack hält.

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