Grenzfall (German Edition)
habe ich nicht hier gewohnt, sondern im heutigen Polen.« Sie deutet über das Feld. »Meinen Eltern gehörte ein großer Hof. Eines Tages kamen die Zigeuner. Sie lagerten direkt hinter unserem Haus. Ich habe mich jeden Tag hingeschlichen. Ich wollte nicht stören. Nur zusehen. Eines Tages hat mich eine alte Zigeunerin erwischt. Sie hat mich verflucht. Glauben Sie an Flüche?«
Adriana weiß nicht genau, was dieses Wort bedeutet. Sie nickt wieder.
»Ich auch. Könnten Sie den Fluch vielleicht aufheben? Wissen Sie, ich leide an Parkinson. Vielleicht sterbe ich bald.«
Sie möchte antworten, doch die Worte bleiben ihr im Hals stecken. Sie hustet.
Die Frau schenkt ihr Wasser nach und spricht weiter. »Ich wusste, dass eines Tages einer von ihnen hierher zurückkommen würde. Niemand erschießt ungestraft einen Zigeuner, nicht wahr?«
Es fühlt sich an, als würde Strom durch ihren Körper jagen. »Kennst du ihn? Den Polizisten?« Ist das wirklich ihre Stimme? Sie klingt fremd und hart. »Bist du hier, damals?« Irgendetwas stimmt noch nicht, doch jetzt will diese andere Sprache schneller aus ihrem Mund, als ihr lieb ist.
»Natürlich war ich hier. Ich lebe in diesem Haus seit neunzehnhunderteinundfünfzig. Mit meinem Mann. Er war auch hier, aber vor drei Jahren ist er gestorben.«
»Mein Vater. Er ist erschossen. Hier.«
Die Vogelaugen werden weich. »Ihr Vater?« Eine Hand auf ihrer. Sie zuckt zurück, dann tut es ihr leid. Flecken auf der alten Hand. Die Haut ist warm und trocken.
»Kennst du ihn? Den Polizisten?«, fragt sie noch einmal. Sie weiß jetzt, dass diese Begegnung kein Zufall ist. Ebenso wenig wie ihr Traum.
Der Blick der Vogelfrau kehrt sich nach innen, als suche sie etwas. »Zwei Jäger waren das doch. Einer aus dem Westen und unser ehemaliger ABV, der Jahn. Der war früher eine Art Polizist, ja.«
»Du siehst ihn?« Adriana macht eine Bewegung, als hielte sie ein Gewehr und würde schießen.
»Nein, Kind.« Die Alte schüttelt bedauernd den Kopf. »Wir lagen doch in unseren Betten. Ich habe den Schuss gehört, aber das war nichts Besonderes. Erst als das Feld brannte, am nächsten Morgen, da haben wir begriffen, was los war. Und der Jahn, der stand da drüben an der Straße mit den anderen, in aller Seelenruhe. Hat einfach zugesehen. Der war sicher, er kommt davon. Bis sie ihn abgeholt haben.«
»Jahn? Ist Name? Wo ist Jahn?« Sie sucht nach dem Wort, dann fällt es ihr wieder ein. Ein Wort, das im Heim jedes Kind kannte. »Gefängnis?«
»Der war keine Woche im Gefängnis.« Die Vogelaugen wenden sich ab, streifen durch den kleinen Raum. »Da drüben, geben Sie mir mal die Papiere, bitte!« Adriana dreht sich um. Ein Bündel Papier, verschnürt, bereit zum Mitnehmen neben der Tür. Sie gibt es der Alten.
Mit zitternden Fingern beginnt sie den Knoten zu lösen. Es dauert lange. Stille breitet sich aus. Endlich hat sie das Band abgewickelt. Ein Papier nach dem anderen wird betrachtet, zur Seite gelegt, betrachtet, zur Seite gelegt.
Adriana fällt das Warten nicht schwer. Sie hat in ihrem Leben gelernt zu warten. Darauf, dass der Morgen anbricht und die Mutter noch lebt. Auf die Verträge in Zaragoza. Auf die Abwasserrohre in Turnu Severin. Auf bessere Zeiten.
»Da ist es ja! Hier, sehen Sie mal!« Ein Papier wandert langsam über den Tisch zu ihr. »Der konnte sich hier im Dorf nicht mehr blicken lassen. Die Leute haben gedacht, der hat seine alten Seilschaften aktiviert, deswegen muss er nicht in Haft. Nach Kollwitz gezogen ist er angeblich, um für diese Firma hier zu arbeiten. Nordhaus Immobilien .«
Ratlos betrachtet Adriana das Foto auf dem Prospekt. Eine Familie, am Strand, dahinter Häuser. »Immobi-lien?« Das Wort bedeutet nichts in ihrem Kopf.
»Die verkaufen Wohnungen. Direkt am Meer. Jede Woche habe ich diese Prospekte im Kasten. Als könnte sich eine alte Frau so was leisten.« Ihr Blick schweift aus dem Fenster, über den Hof, zum Stall. Hühner laufen herum und picken im kurzen Gras. »Ich möchte hier sterben«, sagt sie leise.
Adriana spürt ihre Trauer und steht auf.
»Nein, warten Sie!« Die Augen leuchten wieder hell und freundlich. »Ich habe doch noch etwas. Haben Sie noch Geduld, mein Kind?«
Während Adriana sich wieder hinsetzt, geht die Vogelfrau nach hinten ins Dunkel ihrer Wohnung. Zeit vergeht. Ab und zu rumpelt es. Adriana wird schläfrig. Der Hund beobachtet sie. Eine Fliege summt.
»Sehen Sie mal!« Adriana schreckt hoch. Die Frau steht direkt neben
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