Grenzfall (German Edition)
Wieder einsteigen. Irgendwohin fahren. Zu spät. Nadina setzt sich auf die Bank vor dem Stadion. Die langen Haare nerven. Nachts im Bus hat sie das Haargummi abgemacht und eingesteckt. Ach ja, linke Tasche. Hier will sie sowieso nicht mit offenen Haaren rumlaufen. Da sind ja auch die Kopfhörer. Nur noch einmal. Rihanna und Eminem.
Just gonna stand there and watch me burn
But that’s all right because I like the way it hurts
Just gonna stand there and hear me cry
But that’s all right because I love the way you lie
Kann sie gar nicht oft genug hören. Der Wind auf den nackten Schultern. Ganz schön kalt hier oben in den Bergen. Voll die Tussi ist sie geworden. Sie steckt sich eine Kippe an, um das kribbelige Gefühl in der Magengrube loszuwerden. Alles easy, sie war doch alle paar Monate hier. In den Ferien. Heute kommt sie für immer zurück.
Sie ist nicht mehr die kleine Doofe aus der Provinz. Sie weiß Bescheid. Das Ţiganikind für die Quote auf dem Internat. Irgend so ein Schwachsinns-Modellprojekt aus Brüssel. Wenn es Kohle von der EU gibt, machen in Rumänien alle Männchen. Ihre alte Klassenlehrerin hat sie vorgeschlagen, damals nach der achten. Mama wollte sie hierbehalten. Die Brüder wollten, dass sie bei Mama blieb. Nadina wollte auch bei Mama bleiben. Die Lehrerin ist immer wieder bei ihnen aufgekreuzt. Bis Mama zugestimmt hat. »Du wirst vier Jahre lang zu essen haben, Tochter.« Als das Auto kam, um sie abzuholen, konnte Mihai sie trotzdem nur mit Gewalt reinbefördern.
Es war schlimmer als erwartet. Sie musste sich jeden Millimeter Respekt von den Gadjes erkämpfen. Mit Schreien und Spucken und oft genug mit den Fingernägeln. »Halt immer den Kopf hoch.« Mamas Lieblingsspruch. »Und heul nicht vor den Weißen.« Wie oft hat sie das Stipendium verflucht. Ihre Sachen gepackt, um abzuhauen. Die Tränen runtergeschluckt. Weitergemacht.
Bringt nichts, hier rumzuhängen. Sie zieht den Griff von dem Koffer raus und macht sich auf den Weg nach Hause. Immer an der Ausfallstraße nach Osten, unter der Stromtrasse. Der Koffer poltert über die uralten Platten des Bürgersteigs. Oh Mann. In Bucure ş ti lief der noch wie geschmiert. Autos rasen an ihr vorbei. Wochenende, die Reichen fahren raus in ihre Datschen.
Endlich. Sie bleibt kurz stehen. Noch ’ne Kippe. Wollte sie eigentlich für später aufheben. Wer weiß, wann sie Arbeit findet. Aber das Kribbeln geht nicht weg. Die letzten Häuserblocks hier links, dann ist die Stadt zu Ende. Die Brücke über den Fluss, links die Sandpiste rein. Ihre Siedlung.
Neben ihr tauchen sofort die Kinder, die Hunde und ein Ferkel auf. Haben die hier gewartet oder was? Voll das Ghetto. Zusammengezimmerte Hütten hinter Wellblechzäunen. Überall Müll. Verdammt, holt den hier keiner ab? Blöde Frage. Was irgendwer zu Geld machen kann, wird rausgesammelt, der Rest bleibt liegen.
»Nadina!« Ist das nicht der Älteste von Mihai, der sich da zu ihr durchboxt?
»Lass mich mal durch.« Sie versucht schneller zu laufen, aber der blöde Koffer wird immer schwerer auf dem Sand. Vor ihr das Umspannwerk, mitten im Mais, direkt hinter den letzten Hütten. Was stehen denn die ganzen Leute da rum?
Die Bretterpforte geht auf. Mama tritt auf die Straße. Obwohl sie so klein ist, der Rücken krumm, bildet sich sofort eine Gasse. Sie hat diese Wirkung auf die Leute.
»Tochter.«
»Mama!«
Ist das wirklich Mihais Großer, der an ihrem Koffer zerrt? Wird er schon sein. Sie lässt los. Nur noch ein paar Schritte. Mama riecht so gut. Nadina drückt ihr Gesicht an das kratzige Tuch, mit dem sie ihre Haare zusammenhält.
»Willkommen zu Hause, mein Kind.«
Neugierige Blicke bohren sich in ihren Rücken. Die mit dem Schulabschluss. »Silvia, sag ihr, sie soll ihr Gesicht zeigen!«, ruft jemand und lacht.
»Komm.« Mama zieht sie mit festem Griff hinter sich her und schließt die Pforte. »Heute gehörst du noch mir allein.«
Nadina lacht. »Wieso noch?«
»Na, na, du wirst sehen. Kaum vergeht der Tag, und schon sind die Kinder fort.«
Sie knufft ihre Mutter in die Seite. »Mama, deine Söhne wohnen um die Ecke. Deine Enkel sind mehr bei dir als bei ihren eigenen Müttern.«
Alles sieht enger aus als früher. Der rechteckige Hof mit dem Bretterverschlag und dem Klo. Ein Kinderfahrrad. Eine Puppe ohne Arme. Mama hält ihr den Vorhang auf, der ins Wohnzimmer führt. Es ist winzig, gerade genug Platz für das Sofa und den Tisch. Nadina schleudert ihre Flipflops von den
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