Grenzfall (German Edition)
Schaukel neben der Babyplansche. Sein elf Monate alter Sohn Azim sitzt zehn Zentimeter vom rettenden Ufer entfernt in der warmen Brühe und spielt mit einem Plastikdelfin. Nick sieht nach oben zur Dachgeschosswohnung. Jasmin steht auf der Terrasse.
»Kannst du nicht mal die Sonnenbrille abnehmen? Du siehst ja nicht mal, ob er ertrinkt!«
Das Wasser ist zur Mitte hin tiefer. Mindestens dreißig Zentimeter an der tiefsten Stelle. Nick nimmt die Brille ab.
»Ich fahr jetzt ins AA! Bis später.«
Er bemerkt, dass alle ihn anstarren. Die Frauen natürlich, nicht die Kinder. Nick hat nichts gegen Kinder. Aber er hat definitiv was gegen Spielplätze, Babyplanschen eingeschlossen. Für ihn die traurigsten Orte der Welt. Er kann die Blicke fast körperlich spüren, abschätzend, manche interessiert. Viele der Mütter sind jünger als er. Sie haben lange Haare, modische Frisuren, gepflegte Körper. Als wollten sie kollektiv darauf hinweisen, dass Mütter heute nicht mehr automatisch vom Markt genommen werden.
Nick klappt seinen Laptop auf und versucht ihn auf den Knien auszubalancieren und dabei nicht ins Schaukeln zu geraten. In Bombay, direkt nach Azims Geburt, konnte er wenigstens ein paar Stunden am Tag arbeiten. Es gab ein Kindermädchen und eine Frau, die die Wohnung putzte. Nick war am Ende doch ein neofeudaler weißer Snob geworden.
»Joel! Das ist aber nicht nett. Guck mal, das Kind ist kleiner als du. Gib doch bitte mal den Delfin zurück.«
Eins, zwei, drei. Nick klappt den Laptop zu. Azim fängt an zu schreien. Er hebt ihn hoch und setzt sich mit ihm auf die Schaukel, andersherum, damit sie ihn nicht dabei scannen können, wie er versucht, sein Kind zu beruhigen. Den Artikel über die Gay Pride Parade in Bombay wird er vielleicht heute Nacht fertig schreiben. Wenn Azim durchschläft. Was er nicht tut. Schon seit vier Monaten nicht, seit sie wieder in Deutschland sind. Jasmin braucht ihren Schlaf. Das Auswärtige Amt ist schließlich keine Pommesbude. Apropos Pommes …
»Was meinst du, Azim, wollen wir mal wieder zu McDonalds?« Die Frage ist nicht für Azim gedacht, der ist längst eingeschlafen. Nick dreht sich um. Tödliche Blicke treffen ihn von allen Seiten. Zufrieden setzt er die Sonnenbrille auf, packt Azim in die dreirädrige Joggingkarre und schiebt Richtung Ausgang. Immer in Bewegung bleiben.
Eine Stunde später sitzt er in seinem türkischen Lieblingsbiergarten, vor sich einen Teller Köfte mit Pommes und ein großes Bier. Azim ist aufgewacht und robbt durch den Sand eines abgezäunten Miniatur-Freizeitparks für die Kinder. Immerhin gibt es hier so früh am Nachmittag nur wenige Besucher. Nick fühlt sich brammig und leicht benebelt vom Bier. Der Artikel dümpelt ganz außen an der Peripherie seines Bewusstseins.
Fünftausend Leute, Regenbohnenfahnen, ein verstohlener Kuss zwischen zwei Männern. Ungläubig stand Nick mit Azim im Schultertuch am Marine Drive. Mitlaufen wollte er nicht, falls doch die Polizei eingriff. Vor allem wollte er nicht Cal über den Weg laufen. War auch nicht möglich, denn Cal war, wie so oft, umringt von Freunden und Fans.
Vier Jahre lang Versteckspielen, ein Doppelleben führen, immer Angst haben, entdeckt zu werden. Wie oft hatten er und Cal sich ausgemalt, wie es wäre, wenn Artikel 377 der indischen Verfassung abgeschafft würde und sie endlich offiziell zusammen sein könnten. Doch dazu kam es nicht mehr. Cal arrangierte sich prima zwischen seiner Scheinehe mit der Tochter eines Studiobesitzers und seinem heimlichen Zweitleben mit Nick. Eigentlich war er sowieso nie da, denn er gehört zu den Shooting Stars des neuen indischen Kinos. Die Zeit der Bollywood-Märchen ist vorbei, die Jugend in den Metropolen will ihre eigenen Filme.
Nick fuhr hierhin und dorthin, schrieb aufwühlende Reportagen und begann sich zu langweilen. Die Nachrichten von Mattie waren auch nicht besser. Indienreise abgesagt, stattdessen saß sie am Bett ihres Vaters herum und vergeudete ihre Jugend mit Kamal Assadi.
Wenn Nick eines nicht erträgt, außer Spielplätzen, dann ist es Stillstand. Stillstand ist gleich Tod. Und so schlug Jasmin wie ein Meteorit in sein Leben ein, direkt von der Uni in Genf ins Auswärtige Amt gecastet, erster Job im Generalkonsulat Mumbai. Ob er und Azim von Anfang an zu ihrem Plan gehörten, möchte er lieber nicht wissen. Diese Frau hat ihn vom ersten Moment an überwältigt. Damals hinter der Glasscheibe in Kamal Assadis Dojo an der Ostsee.
Jasmin bezog
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