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Grenzfall (German Edition)

Grenzfall (German Edition)

Titel: Grenzfall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merle Kröger
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zurückkommt. Nach drei Tagen ruft ein Fremder an. Ein Ţigani. Mihai ist in Sicherheit, sagt er. Sie bringen ihn nach Hause.«
    Nadina drückt Mamas Schultern. »Siehst du? Du machst dir zu viele Sorgen.«
    »Macht sie nicht.« Sergiu stellt sich wieder auf seinen alten Platz. »Sie wollten achthundert Euro von mir. Ohne Geld kein kleiner Bruder. Ich bin zum Geldverleiher gegangen. Der gibt mir das Geld, ich schicke es nach Marseille – zwei Tage später steht er vor der Tür. Mama ist glücklich und päppelt ihren Kleinen wieder auf. Seine Frau ist glücklich, seine Kinder sind glücklich. Und ich? Jeden Monat steigen die Schulden um einhundert Prozent. Verstehst du? Hast du rechnen gelernt, Schwester?«
    Nadina nickt. Jetzt ist Juni. Zweitausendvierhundert Euro.
    »Ich komme gerade vom Geldverleiher.« Sergiu sieht nicht mehr so gefährlich aus. Nur müde. Er steckt sich noch eine Kippe an. »Er hat mir ein Angebot gemacht.«
    »Nein!« Mama wirft sich vor Sergiu auf die Knie und umklammert seine Beine. »Willst du mich töten, Sohn?« Er greift nach ihren Armen und drückt sie zurück ins Sofa, wo sie sitzen bleibt wie eine Puppe.
    Nadina ist aufgesprungen. »Wie kannst du so mit Mama umspringen?« Sie erwartet, dass Mihai ihr zu Hilfe kommt wie früher. Er starrt weiter auf seine Füße. Mama genauso. »Sergiu, was ist hier los?«
    Sein kalter Blick trifft sie mehr als eine Ohrfeige. »Ein reicher Mann in Südfrankreich, Rumäne, braucht ein Hausmädchen. Alle haben dich hier herumlaufen sehen in den letzten Tagen. Du hast helle Haut. Du kannst Rumänisch und Französisch. Der Geldverleiher will, dass du dorthin gehst.«
    Eine Mischung aus Wut und Panik. Wie auf dem Internat. Ihr ist schwindelig.
    »Verstehst du, was ich sage? Du wirst sechs Monate umsonst arbeiten, danach sind die Schulden bezahlt und die Familie bekommt jeden Monat fünfhundert Euro.«
    »Nein.« Sie will an ihm vorbei zur Tür, aber er ist schneller. Seine Hand legt sich wie eine Fessel um ihren rechten Arm.
    »Denk doch mal an Mama.« Ist es wirklich Mihai, der das sagt? Ihr Lieblingsbruder?
    »Du wirst gehen«, sagt Sergiu. »Keine Diskussion mehr. Oder die Familie stürzt ins Verderben.«
    »Lass mich los!« Nadina zieht. Sergiu hält fest.
    »Sie geht nicht!« Mama ist aufgestanden. »Nicht solange ich lebe!«
    »Mama, bitte!« Sergiu drückt die Zigarette aus. »Ich muss ins Bett.«
    »Ich werde das Geld besorgen. Bis zum Monatsende. Und sie wird nicht nach Frankreich gehen.«
    »Das ist doch lächerlich.« Sergiu lässt endlich ihren Arm los. »Komm schon, Mihai.« Mihai folgt ihm schweigend hinaus in die Dunkelheit.
    »Ich werde das Geld besorgen«, murmelt Mama.
    Nadina reibt sich den Arm, damit das Kribbeln weggeht. Sie macht den Vorhang runter. Dreht sich um. Geht zu Mama und umarmt sie. Mama zittert ja. Ihre starke Mama, die nichts umwerfen kann.
    So bleiben sie stehen, bis das Licht ausgeht. Stromausfall.

16. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
    Es ist fünf Minuten vor elf. Adriana steht unten im Haus Kormoran vor dem Aufzug. Jetzt, wo es so weit ist, ist sie plötzlich ruhig. Den ganzen Tag hat sie schlecht gearbeitet, ist bei jedem Geräusch zusammengefahren. Hat zu nass gewischt. Die Zeit wollte nicht vergehen. Nach der Arbeit war sie auf dem Friedhof, um mit der Großmutter zu reden. Sie ist die Reihen abgelaufen, doch sie konnte das Grab nicht finden. Kann ein Grab einfach verschwinden? Sie hätte gern die Pastorin gefragt, hat dann aber lieber nicht am Pfarrhaus geklingelt. Nur kein Aufsehen so kurz vor dem Ziel.
    Einer spontanen Idee folgend, ist sie noch mal zu den Garagen gegangen und hat sich den Kittel angezogen, das Kopftuch umgebunden, Eimer und Wischmopp mitgenommen. Die Putzfrau, die er schon kennt. Adriana die Stille, die morgen in den Zug nach Berlin steigen wird, kennt er nicht.
    Sind das Schritte im Treppenhaus? Endlich kommt der Fahrstuhl. Die Kabine ist leer. Adriana geht hinein, die hintere Wand ist verspiegelt. Sie betrachtet sich. Wie sie da steht, in ihren Stiefeln, langer Rock, Kittel und Kopftuch, auf den Wischmopp gestützt, der in dem Sieb des Eimers steckt. Warum erkennt sie plötzlich das Mädchen Adriana wieder? Vielleicht nur, weil sie hier an diesem Ort gelebt hat. Adriana die Stille. Als sie noch nicht still war.
    Der Fahrstuhl hält. Die Tür öffnet sich, doch sie bleibt noch einen Moment stehen. Dann dreht sie sich um und tritt hinaus auf den Treppenabsatz.

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