Grenzfall (German Edition)
Nase. Das Geld reicht gerade für Internet und Kippen. Sie weiß nicht, wonach sie in letzter Zeit mehr süchtig ist.
Sie kann nicht so schnell putzen wie Mama. Es ist schon dunkel. Sie läuft unter der Stromtrasse entlang. Die Blicke spürt sie trotzdem, fast noch stärker als am Tag. Es ist warm, die Nachbarn sitzen vor ihren Häusern. Vor manchen brennen die Feuertonnen. Ein Hund läuft auf sie zu und bellt. Misstrauisch schnuppert er an ihrem Bein. Nadina tritt zu. Jaulend verzieht er sich in die Dunkelheit. Eine junge Frau steht im Halbdunkel an der Ecke und redet mit jemandem hinter dem Zaun. Ihr Rock aus irgendeinem billigen Glitzerstoff. Ein Mädchen klammert sich an ihre Hand. »Nadina L ă c ă tu ş .« Sie lacht. »Kennst du mich nicht mehr oder willst du mich nicht mehr kennen?«
Immer schön lächeln. Das Gesicht kommt ihr bekannt vor. Aus der Schule oder was? Die meisten sind schon ein paar Jahre verheiratet. Kinder sowieso. »Ich muss nach Hause«, sagt sie, »Mama wartet.« Kopf hoch. Weitergehen.
Nichts anmerken lassen.
Sie ist schon eine Woche hier und hat noch nicht mal ihre Brüder besucht. Sie geht ihnen aus dem Weg, und Mama erfindet irgendwelche Ausreden für sie.
Endlich die Pforte. Sie will nur noch ins Bett. Musik hören. Vergessen. Schon im Gang hört sie die lauten Stimmen. Ihre Brüder sind da. Zurück auf die Straße kann sie nicht um diese Zeit. Nadina bleibt stehen. Der Mond scheint in den engen Hof. Das ist die Stimme von Sergiu. Als Papa starb, war er acht. Jemand antwortet, leiser, das muss Mihai sein. Er ist der dritte Bruder, Nadinas Liebling. Als Kinder waren sie immer zusammen. Sie lauscht, kann nicht verstehen, was gesprochen wird.
Mama macht sich zu viele Gedanken. Es sind ihre Brüder. Was soll schon passieren? Niemand kann sie zu irgendwas zwingen. Und zum Heiraten schon gar nicht. Nadina atmet tief durch und geht nach hinten. Der Vorhang ist offen.
»Du hast mir gesagt: Tu etwas, Sohn! Egal was!« Wieder die laute Stimme. Nadina bleibt stehen, das Licht von drinnen blendet sie.
»Ich weiß!« Mama schlägt die Hände vors Gesicht.
»Mama!« Nadina ist mit drei Schritten bei ihr, sitzt auf dem Sofa, legt den Arm um ihre Schultern. Sie ist so dünn.
Sergiu steht neben dem Fernseher. »Wo bist du gewesen? Warum kommst du erst jetzt?« Er ist kein Junge mehr, arbeitet auf dem Bau. Seine Klamotten sind voll mit weißem Staub. Ein neues Tattoo auf dem linken Arm. Kein Typ, mit dem man Streit haben will.
»Ich habe gearbeitet.« Ihre Stimme zittert. Sie ballt ihre linke Hand unauffällig zur Faust. Nichts anmerken lassen.
Sergiu hat sie nicht mal begrüßt. Ihr Blick geht rüber zu Mihai, der auf dem Holzstuhl sitzt. Er zwinkert ihr zu wie früher. Mihai sieht gut aus, ein dunkler Typ wie Mama. Er könnte Italiener sein. »Du bist eine Schönheit geworden, Schwester.« Bevor sie etwas sagen kann, sieht er weg. Sein Blick flackert.
»Sülz nicht rum!« Sergiu starrt sie an. »Ich habe andere Arbeit für dich gefunden.«
»Nein!« Das ist wieder Mama. Nadina spürt, wie die Gänsehaut langsam ihren Arm hochkriecht. Was ist hier los?
»Na los, erzähl ihr doch selbst von deinem Abenteuer, Idiot!« Sergiu zündet sich eine Zigarette an und stellt sich in den Türrahmen. Er füllt ihn beinahe ganz aus.
»Ich bin im April nach Marseille gefahren.« Mihai redet leise und starrt auf seine Füße. »Ich wollte Arbeit suchen. Wir hatten kein Holz mehr und Mama auch nicht. Sie braucht Tabletten wegen der Schmerzen.«
»War ich es etwa, die dir gesagt hat, dass du dorthin fahren sollst?« Mama hat den Kopf hochgerissen. Sie holt aus, um ihm eine Ohrfeige zu geben. Ihr Gesicht verzieht sich. Die Schmerzen im Rücken. Sie lässt die Hand wieder fallen.
»Ich habe gesucht und gesucht, aber keiner gab mir Arbeit. Ich hatte kein Geld mehr.«
»Er ist fast verhungert!« Mama funkelt ihn wütend an. »Hat hier angerufen. Keinen zusammenhängenden Satz konnte er mehr sagen.«
Mihai achtet nicht auf sie. »Ich dachte, sie zahlen mir den Rückflug, wenn ich nichts finde. So haben es im letzten Jahr alle gemacht.«
Nadina kommt nicht mit. »Wer?«
»Na, die Franzosen«, wirft Mama ein, »aber das ist lange vorbei.«
»Und dann?«
Mihai hebt die Schultern, als wolle er dazwischen verschwinden. »Ich weiß nicht …«
»Aber wir wissen es.« Sergiu hat sich umgedreht. »Mama war schon genauso verrückt wie er. Hat immer nur davon geredet, dass noch einer verschwindet und nicht
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