Grenzfall (German Edition)
»solidarity with the downtrodden.« Er steckt sich eine Zigarette an, geht zu der Frau, die immer noch keine hat, und hält ihr die Schachtel hin. Sie nimmt sich drei.
»Danke, mein Freund.« Diese Stimme. Große Klasse. Nick würde am liebsten fragen, ob er sie aufnehmen darf.
»Sag mal, findest du das gut, die noch so zu ermutigen?« Diese Stimme klingt überhaupt nicht cool. Gepresst. Angestrengt. Überheblich.
Nick dreht sich um. Mattie hat es auch gehört. Da drüben, auf den äußeren Liegestühlen.
»Sprichst du mit mir?« Er bläst den Rauch seiner Zigarette absichtlich in ihre Richtung. Typ Yogalehrerin.
»Du solltest diese Leute nicht dazu ermutigen, zu betteln. Ich wohne hier, und ich kann dir sagen, wir Anwohner sind gar nicht glücklich, dass die in unserem Park lagern. Guck dir doch mal den Müll an!«
Lagern. Was ist denn das für ein Wort! »Die sitzen doch hier ganz friedlich. Oder haben die dir was getan?«
Die Frau verzieht den Mund wie ein mauliges Kind. »Mir nicht, aber meiner Freundin hat man vorgestern das Auto aufgebrochen.«
»Ach echt?« Das ist jetzt Mattie von links. »Und du hast also beobachtet, wer es war?« Sie ist noch nicht fertig. »Und der ganze Müll hier im Park stammt auch von denen? Die müssen ja Kohle ohne Ende haben, so viele Sekt- und Weinpullen wie hier rumliegen.«
Jetzt mischt sich auch noch der Supervater ein, der Nick schon vorhin damit genervt hat, dass er die ganze Zeit überlaut mit seinem Nachwuchs quatscht. »Ihr müsst doch zugeben, dass das für unsere Kinder nicht schön ist. Immer dieses Geschrei. Und die Jungs da drüben rauchen schon. Die sind doch höchstens vierzehn!«
»Stimmt«, sagt Mattie, »hast du das gesehen, Azim? Willst du jetzt auch rauchen?« Azim gluckst und greift nach ihrer Nase.
Der Typ wird sauer, guckt sich um, sucht Verstärkung. »Na ja, mir ist es nicht egal, womit meine Kinder aufwachsen. Und einigen anderen hier im Viertel auch nicht.«
»Problems, honey?« Der Freund von der Yogalehrerin. Weniger Yoga als Kraftraum. Zwei Caipis in der Hand.
»Mattie.« Sie hat sich gerade in Stimmung gebracht, doch Nick deutet auf Azim. »Rückzug.« Er greift sich die Karre, und sie machen sich davon. Ein ganz normaler Abend mit Mattie. Wenigstens nicht langweilig.
16. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Adriana schläft zwischen der hinteren Reihe der Sitzkästen und dem Deich. Der Traum ist wieder da. Vater breitet die Arme aus: »Ich bin es nicht!« Sie schreckt hoch, schnappt nach Luft. War da ein Geräusch? Eine Möwe, die einen Plastikbecher über den Strand zerrt. Adriana fühlt sich verklebt. Überall Sand.
Sie steht auf, wischt Sandkörner aus der Nase, aus den Augen. Überprüft, ob ihre Uhr stehengeblieben ist. Nein, wirklich noch so früh. Dann geht sie barfuß hinüber zu dem Toilettenwagen und zieht vorsichtig am Griff. Die Tür ist offen.
Erleichtert stellt sie sich vor das Waschbecken und zieht ihre Bluse aus. Sie wäscht sich, dann die Bluse und die Unterhose. Bis sie zur Arbeit muss, werden sie im Wind getrocknet sein. Sie wickelt sich das Schultertuch eng um den Körper.
Zurück an ihrem Schlafplatz, hängt sie die Bluse und die Hose über das schützende Gebüsch, das auf dem Deich wächst. Sie setzt sich in die Kuhle, in der sie geschlafen hat, und holt das Fahrtenbuch aus der Tasche. Die Seiten sind ein wenig feucht. Adriana glättet sie sorgfältig mit der Hand, bevor sie eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht streicht und weiterliest.
»20/06/1992. Meine liebe Adriana, das Haus ist leer ohne euch hier in Turnu Severin. Jedes Mal, wenn ein Auto vorüberfährt, huschen die Schatten über die Wände. Es ist still, selbst die Hunde sind nicht mehr da. Ich frage mich, ob es richtig war, dass wir alle unsere Häuser verlassen haben und nach Norden gezogen sind. Häuser brauchen Menschen, die in ihnen leben, sonst sterben sie. Ich habe das Gefühl, um mich herum stirbt das ganze Viertel.«
Adrianas Tränen fallen auf das Papier. Schnell wischt sie mit dem Tuch die Tropfen weg. Die Schrift darf nicht zerstört werden. Das Erbe ihres Vaters, so anfällig gegen Wind und Wetter und Zerstörung. Sie ordnet den Stapel noch einmal. Steht auf, geht wieder zum Toilettenwagen. Legt zwischen die einzelnen Seiten jeweils ein Papierhandtuch. Geht zur Mülltonne, sucht vorsichtig mit der einen Hand darin herum. Zieht eine Plastiktüte heraus, prüft, ob sie sauber und trocken ist, und legt das
Weitere Kostenlose Bücher