Grenzfall (German Edition)
Fahrtenbuch hinein. Die Plastiktüte verschwindet in der Umhängetasche.
Obwohl die Bluse noch nass ist, zieht sie sie wieder an, ebenso die Unterhose. Die Stiefel warten direkt hinter dem Sitzkasten. Fühlen, ob Tiere sich darin verstecken. Nein. Das Messer ist noch da. Adriana wirft einen letzten Blick zurück. Nichts deutet darauf hin, dass hier jemand geschlafen hat. Außer der leichten Vertiefung im Sand, die ihr Körper hinterlassen hat. Sie läuft los, sieht auf die Uhr. Halb sechs. In einer halben Stunde soll sie anfangen zu putzen. Sie muss etwas essen. Früher gab es am Bahnhof einen Kiosk, der rund um die Uhr geöffnet hatte. Mit schnellen Schritten erklimmt sie den Deich.
Fünfzehn Euro hat die Telefonkarte gekostet. Plus dreißig Cent für ein trockenes Brötchen. Wird ihr Geld reichen, bis der Mörder ihr gibt, was ihnen zusteht? Außerdem bekommt sie Lohn für das Putzen. Sie weiß nicht, wann. Nach einer Woche? Einem Monat? Egal, sie bereut es nicht. Die Karte an die Brust gepresst, geht sie über die Brücke und sucht nach einer Telefonzelle. Hier stand früher eine. Nicht mehr da. Weiter. Drüben bei der Kaufhalle , drei nebeneinander. Auch weg. Adriana fühlt die Panik kommen. Nicht hektisch werden, sie darf nicht auffallen. Sie läuft weiter. Sieht auf die Uhr. Noch fünfzehn Minuten. Der Kirchturm. Vor der Kirche hat sie manchmal mit der Großmutter auf der Bank gesessen. Rechts, an der Ecke zum Pfarrhaus. Zwei Telefonzellen. Schneller. Der Kirchplatz, das Pfarrhaus. Noch da! Erleichtert zerrt sie an der Tür. Offen. Hebt den Hörer ab. Freizeichen. Schiebt die Karte hinein.
»Hallo! Wer spricht?«
Ruhig, sie darf sich nichts anmerken lassen.
»Lili?«
»Mama! Es ist Mama! Wo bist du?«
Bevor sie antworten kann, ertönt hinter Lili vielstimmiges Geschrei. Adriana lächelt. »Lili? Hörst du mich?« Keine Antwort. Sie hört das Geräusch von Schritten. Lili rennt mit dem Telefon über den Hof.
Ihr Blick wandert durch das Fenster der Telefonzelle zum Pfarrhaus. Noch ein Fenster hinter dem Fenster. Eine Frau, die vorsichtig Wasser in eine Kanne füllt. Die Pastorin! Sie ist immer noch hier.
»Adriana! Frau! Wo bist du, was hast du getan?« Florin. Adriana schluckt die aufsteigenden Tränen herunter.
»Du bist zurück.« Es ist gut, dass er bei den Kindern ist. »Gab es keinen Vertrag mehr für dieses Jahr?«
»Wo bist du? Warum bist du fortgelaufen?«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin bald bei euch, Florin. Es wird alles gut.«
Seine Stimme klingt jetzt ruhiger. »Deine Mutter ist krank vor Sorge. Wann kommst du?«
Sie kann die Tränen nicht länger zurückhalten. »Bald«, flüstert sie und legt auf.
Einen Augenblick lang steht sie einfach da, an die kühle Glaswand der Telefonzelle gelehnt. Dann zieht sie die Karte aus dem Schlitz, geht nach draußen. Sieht zum Pfarrhaus hinüber. Beim Anblick der Pastorin ist ihr eingefallen, dass die Großmutter hier begraben liegt. Die Stiefel wollen nach links, zum Friedhof. Am Grab sitzen, der Großmutter erzählen, was geschehen ist. Warum sie allein in Deutschland zurückgeblieben ist. Doch die Großmutter muss warten. Adriana nimmt sich vor, mit der Pastorin zu sprechen. Was kostet es, die Großmutter nach Hause zu bringen? Es war Vaters Wunsch. Später. Noch hat sie das Geld nicht. Noch muss sie putzen.
Als sie an der Garage des Mörders vorbeikommt, bleibt sie kurz stehen, lauscht. Es ist kein Ton zu hören. Sie läuft weiter, öffnet die Tür am Ende der Reihe mit dem Schlüssel, den sie an einer Schnur um den Hals trägt. Die Neonröhre flackert auf. Sie nimmt den Kittel vom Haken, hängt stattdessen ihr Schultertuch daran und die Umhängetasche. Zieht den Kittel an. Steckt den Schlüssel in die Tasche, um sich das Kopftuch festzubinden. Hält inne.
In der rechten Kitteltasche steckt ein Zettel. Adriana holt ihn heraus, stellt sich direkt unter die Neonröhre. »Heute Abend, 23 Uhr. In der Wohnung.« Sie liest die Worte noch einmal. Ein drittes Mal. Ihr Herz klopft.
»Bald«, flüstert sie wieder. Bald wird sie auf dem Weg nach Hause sein.
16. Juni 2012, Braşov
Transsilvanien, Rumänien
Der einzige Job, den Nadina gefunden hat, ist Mamas alte Stelle im Stadion. Und auch nur, weil Mama da angerufen hat und die Leute vom Verein Mitleid mit ihr haben. Jeder Knochen tut ihr weh von dem sinnlosen Schrubben. Bier, Kippen und Kotze. Reihe um Reihe. Sie hat heimlich in der Umkleide geduscht. Der Geruch hängt ihr trotzdem noch in der
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