Grenzfall (German Edition)
halten.
Schölling überlegt einen Moment. »Aus Sicht der deutschen Behörden nicht. Hier liegt kein Fehler vor. Aus Sicht der Familien kann ich Ihre Argumentation durchaus nachvollziehen.«
»Sie machen es sich zu einfach.« Nick möchte diesen Mann in Grund und Boden argumentieren. Moralisch. Politisch.
»Haben Sie sonst noch Fragen zur Sache?« Wieder ein Blick auf die geerbte Armbanduhr. Juristenfamilie, mindestens dritte Generation. Nick kennt diese Liga. Er hat selbst mal dazugehört.
»Können Sie mir schon etwas zu dem aktuellen Fall sagen?«
Schölling schüttelt den Kopf. »Laufende Ermittlungen. Wenn eine Pressekonferenz angesetzt wird, kann ich Sie gerne informieren. Lassen Sie Ihre Karte einfach bei meiner Mitarbeiterin vorne.«
Nick steht auf. Jetzt kommt der entscheidende Moment.
Columbo.
»Ach, übrigens – die Familie des einen Opfers wusste bis gestern nichts vom Ergebnis des Prozesses. Wenn wir nun die zweite Familie ebenfalls kontaktieren möchten …« Er lässt den Satz bewusst unvollendet.
Der Mann sieht ihn lange an. Dann nimmt er sein graues Jackett und zieht es an. »Auf Wiedersehen, Herr Ostrowski. Meine Mitarbeiterin wird in einer Minute erscheinen und Sie hinausbegleiten.«
Zehn Sekunden später ist Nick allein im Raum. Die Akten auf dem Tisch, aufgeschlagen die Seite mit den Adressen der Opfer. In der Ecke ein Kopierer. Danke, Doktor Schölling.
Als die Frau den Raum betritt, sitzt Nick wieder auf dem Stuhl und ist gerade dabei, sein Aufnahmegerät einzupacken.
22. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Wo ist sie? Gitter vor dem Fenster. Sie ist dreizehn Jahre alt. In Deutschland. Vater sagt, die Gitter sind zu ihrem Schutz. Er glaubt es selbst nicht. Aber es stimmt, Vater! Die Leute da draußen hassen uns. Sie wollen uns umbringen. Erst die Alten. Die Großmutter. Dann die Väter. Dann die Kinder.
Adriana die Stille liegt unter ihrer Decke und zittert. Sie haben ihr Tabletten gebracht. Sie wirft sie weg. Gift.
Die Frau mit dem Essen. Hass. Angst.
Adriana hat seit drei Tagen nichts gegessen.
Angst.
Sie trinkt nur Wasser aus der Leitung.
»Frau Ciurar! Aufstehen, Sie haben Besuch!«
Adriana bleibt liegen. Ganz still.
»Kommen Sie! Ihr Anwalt ist da!«
Anwalt. Liviu hat ihr versprochen, er sucht einen Anwalt. Einen von uns.
Ihre Beine zittern. Wo sind die Stiefel?
Die Frau will ihr helfen.
»Geh weg!« Adriana will nicht, dass sie sie berührt.
Ihre Haare. Sie muss sie zusammenbinden. Ihre Arme sind zu müde.
Laufen.
Laufen.
Gitter.
Laufen.
Ein Tisch. Zwei Männer. Liviu.
Liviu springt auf. »Adriana Voinescu! Wie siehst du aus, Schwester? Was ist geschehen?«
»Liviu, das ist keiner von uns!«
»Er ist ein guter Anwalt. Der Beste, Schwester, glaube mir, er wird uns helfen.«
»Ich will nicht mit ihm reden.« Hinsetzen. Den Kopf auf die Arme legen. Sie ist müde.
Etwas berührt ihren Arm. Was? Ein Blatt Papier.
»Florin hat dem Anwalt eine Vollmacht geschrieben.« Florins Unterschrift. Liviu, was ist los, alter Freund? Warum guckst du so verzweifelt?
Adriana schiebt das Papier von sich weg. »Sie haben seine Unterschrift nachgemacht. Liviu. Siehst du das nicht?«
Müde. So müde.
»Adriana, ich werde Sie nur als Anwalt vertreten, wenn Sie das möchten. Niemand wird Sie zwingen.« Der andere Mann geht hinaus.
Er spricht mit einem Polizisten. Er gehört dazu. Sie gehören alle dazu.
Er kommt zurück. »Adriana, wir können jetzt mit Florin telefonieren. Möchten Sie das?«
Florin. Ja, sie will mit Florin reden.
Liviu ist zuerst dran. »Florin, ich bin es, Liviu. Leg nicht auf, deine Frau ist hier bei mir.«
Er gibt ihr das Handy.
»Adriana?«
»Florin? Wo bist du?«
»Adriana, Frau, hör mir genau zu. Du willst doch zurück zu deiner Familie?«
»Ja, Florin.«
»Dann tu, was ich dir sage. Der Anwalt arbeitet mit einer Frau. Sie heißt Mattie. Sprich mit ihr. Sprich mit niemandem sonst. Hast du mich verstanden, Frau?«
»Ja, Florin.«
Sie nehmen ihr das Handy weg.
»Wo ist Meti?« Adriana spricht Deutsch.
»Mattie ist noch in Rumänien, Adriana. Sie wird bald hier sein.«
Er hat eine sanfte Stimme, der Anwalt. Sie darf niemandem trauen. »Ich rede mit Meti.«
»Ist gut, Adriana.« Er sieht ihr in die Augen. »Sie reden mit Mattie, und Mattie redet mit mir. Möchten Sie, dass ich Sie als Ihr Anwalt vertrete?«
Liviu sieht sie an und nickt.
Adriana nickt.
Liviu atmet aus. »Gut, Schwester. Es wird alles gut, du wirst sehen.«
Dann ist sie
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