Grenzfall (German Edition)

ihm auf. Im letzten Moment befreit Lili ihren Arm aus Matties Griff und haut auf die Leertaste. Vivek Sens Stimme ertönt.
    »This is Vivek Sen from Bombay, India, with a special message for Liliana –«
    Mit einem Satz ist Florin an ihrer Seite, starrt auf den Bildschirm. Georgel übersetzt mit zitternder Stimme die Worte des Schauspielers. Ştefan unterbricht ihn. Es folgt ein kurzer Wortwechsel zwischen den Männern.
    »Ştefan sagt, so etwas kann man im Internet fälschen.«
    »Sag ihm, es ist echt.« Mattie sieht Ştefan direkt an. Er ist der entscheidende Faktor in dieser Familie. »Wir können jetzt sofort in Bombay anrufen und mit Vivek sprechen, wenn er möchte.« Sie holt ihr Handy aus der Tasche und sucht demonstrativ die Nummer. Der arme Vivek. Hoffentlich muss sie ihn nicht noch mal nerven. Ştefans Blick fliegt kurz zum Laptop und wieder zurück. Mattie greift langsam über Lilis Arm hinweg und spielt das Video ein drittes Mal ab.
    »Er spricht zu meiner Tochter!« Florins Widerstand ist gebrochen.
    Mattie nimmt die DVD aus dem Laufwerk und gibt sie ihm. »Ich hoffe, Lili darf den Clip behalten. Als Erinnerung.«
    Georgel übersetzt. Ştefan antwortet.
    »Er will wissen, woher du Vivek Sen kennst.«
    Innerlich jubelt sie. Es hat funktioniert!
    Eine herbeigeschaffte Zweiliterflasche Cola und einige ausgewählte Anekdoten aus Bombay später kommen die Männer zur Sache. Die Kinder werden aus der Küche verbannt. Angelica bleibt zu Matties Überraschung sitzen. Es kommt ihr vor, als wäre der Blick der Frau wacher als gestern.
    »Ştefan fragt, was du von ihnen willst.«
    »Um Adriana helfen zu können, brauche ich eine Vollmacht von einem von Ihnen.«
    »Er will wissen, was du persönlich davon hast.«
    Mattie ist verunsichert. Was für eine Antwort erwartet er von ihr? Das Schweigen am Küchentisch zieht sich in die Länge. »Ich habe so gesehen nichts davon. Ich arbeite für die Anwälte, ich bekomme mein Geld, ob ich Adriana helfe oder nicht.«
    Die Skepsis kehrt auf Ştefans Gesicht zurück, sobald Georgel übersetzt hat.
    »Wer bezahlt die Anwälte?«
    Das ist eine Frage, über die sie bisher noch keine Sekunde nachgedacht hat. Mist, überleg dir was, Mattie. Schnell! »Äh – wenn Adriana unschuldig ist, was wir ja glauben, dann bezahlt der deutsche Staat die Anwälte.«
    Wieder ein kurzer Wortwechsel zwischen Ştefan und Florin. Florin scheint dazu zu tendieren, ihr eine Chance zu geben. Mattie sieht zu Georgel. Er zuckt mit den Schultern. »Sie sprechen Romanes. Ich verstehe kein Wort.«
    »Darf ich noch was sagen?« Alle sehen sie erstaunt an. Offenbar ist es hier nicht üblich, dass eine Frau das Gespräch zwischen Männern stört. Ist da etwa die Andeutung eines Lächelns auf Angelicas Gesicht?
    Ştefan nickt Georgel zu. »Okay.«
    »Sie haben mich gefragt, warum ich Adriana helfen will. Mein Gefühl sagt mir, dass Ihrer Familie vor zwanzig Jahren in Deutschland ein Unrecht geschehen ist. Es sagt mir weiterhin, dass das, was damals war, mit dem, was heute ist, in einem Zusammenhang steht. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ich fühle mich dafür verantwortlich, was in meinem Land passiert.« Sie hat langsam und mit Pausen für Georgels Übersetzung gesprochen. Die Ansprache ist ihr ein wenig pathetisch geraten, aber im Grunde ist es das, was sie sagen will.
    Zu ihrer Überraschung mischt sich Angelica ein und spricht eindringlich mit ihrem Sohn. Ştefan nickt, dann antwortet er.
    Georgel übersetzt. »Sie geben dir die Vollmacht, aber nur unter einer Bedingung. Deine Anwälte sollen auch den alten Fall untersuchen. Die Familie ist tief verletzt darüber, dass die Täter nicht bestraft wurden. Es ist, als habe man den Vater ein zweites Mal getötet.«
    Mattie bedankt sich für das Vertrauen. Aus ihrer Tasche nimmt sie zwei Vollmachten in englischer Sprache. Georgel hilft den Männern dabei, je ein Blatt auszufüllen. Mattie klappt ihren Laptop zu.
    Plötzlich fühlt sie eine fremde Hand auf ihrer. Angelica sagt etwas. Mattie guckt hilflos zu Georgel. Dann fängt die Frau an zu lachen. Georgel stimmt ein. »Sie hat vergessen, dass du kein Rumänisch kannst.«
    Später, als sie wieder neben ihm im Auto sitzt, legt Georgel schweigend eine Kassette ein. Eins, zwo, drei, vier – Speed Metal dröhnt in voller Lautstärke durch den Ford. Mattie versucht sich abzulenken, indem sie aus dem Fenster guckt. Bollywood Apokalypse.
    Nach einer Weile dreht er die Musik leiser. »Liviu hat dich