Grenzfall (German Edition)
behagt.
»Zweitausendvierhundert Euro«, antwortet Nadina sofort.
Silvias Augen funkeln. Wortreiche Erklärungen.
»Papa hat ihr gesagt, er hätte noch Geld in Deutschland. Sie glaubt nicht, dass er es Ion gegeben hat.« Nadina wirft ihrer Mutter einen Blick zu, der ›voll peinlich‹ bedeutet, egal in welcher Sprache. Trotzdem übersetzt sie weiter. »Sie glaubt, er hatte eine andere Frau. In Deutschland. Vorhin dachte sie, Sie wären das. Mama will, dass Sie nach Wüstenrot fahren und diese Frau suchen. Wir brauchen das Geld von ihr.«
Großartige Idee. Sie soll nach Wüstenrot fahren und dort nach zwanzig Jahren eine mögliche Geliebte finden, die dann freiwillig mal eben zwei Mille rausrückt? Die spinnen doch.
»Gibt es irgendwelche Unterlagen?«
Silvia überlegt, dann reicht sie ihr kurzerhand den ganzen Karton. Noch mehr Fotos? Mattie sieht hinein. Vergilbte Papiere. Ein Ordner mit Kontoauszügen. Moment mal, das Logo. Raiffeisenbank Wüstenrot.
Ruhig, Mattie. Erst mal die Papiere.
Datev-Bögen.
Das sieht nach einer Lohnabrechnung aus. Arbeitgeber war eine Fensterfabrik. Durften Asylbewerber damals arbeiten? In Wüstenrot offensichtlich schon. Nicu hat sogar Steuern und Solidaritätszuschlag gezahlt.
Dann schlägt sie den Pappdeckel über den Kontoauszügen auf. »Wann genau ist Nicu zurückgekommen?«
Nadina hat jede ihrer Bewegungen verfolgt und übersetzt wie aus der Pistole geschossen. Silvia überlegt und rechnet mit Hilfe ihrer Finger nach.
»Es war ein Sonntag im November 1991.«
Mattie blättert noch einmal durch. Dann holt sie ihr Handy aus der Tasche und ruft die Telefonnummer an, die hinten auf dem Ordner steht.
»Raiffeisenbank Wüstenrot, leider rufen Sie außerhalb unserer Öffnungszeiten an …« Verdammt, es ist Samstag.
Diese Augen! Kann die Frau nicht mal woandershin gucken?
»… in dringenden Fällen wenden Sie sich bitte an unsere 24-Stunden-Hotline unter 0800 …«
Mattie reißt einen Stift aus ihrer Tasche und kritzelt die Nummer hinten auf den Pappordner. Ohne weitere Erklärungen abzugeben, wählt sie noch mal.
»Guten Tag, mein Name ist Gabriele Thornow, was kann ich für Sie tun?«
Klingt eher nach Magdeburg als nach Schwabenland. Seufzend macht Mattie sich an die lange Erklärung der Umstände für ihren Anruf.
Die Antwort fällt wie erwartet genauso lang aus. Sie muss verstehen, dass man außerhalb der regulären Öffnungszeiten nur Notfälle bearbeite wie Verlust der Kreditkarte …
»Dies ist ein Notfall!«, schreit Mattie ins Telefon. »Glauben Sie mir!«
… und ohne Vollmacht gibt es keine Möglichkeit, vertrauliche Bankinformationen einfach so am Telefon …
»Können Sie mir denn nicht wenigstens sagen, ob dieses Konto existiert und das Geld noch drauf ist? Ja oder nein?«
Stille. Was macht die denn da? Kaffee trinken gehen?
»Wie war noch einmal die Kontonummer?«
Mattie liest die Nummer vor.
Sie hört das Geräusch langer Fingernägel auf der Computertastatur.
»Ja, auf beide Fragen. Auf Wiedersehen.«
Mattie starrt ungläubig auf ihr Handy.
Ein Toter hat seit zwanzig Jahren ein Konto, auf dem über dreitausend Euro liegen.
24. Juni 2012, Kreuzberg
Berlin, Deutschland
Er hat die Augen geschlossen und lauscht dem Kampf zwischen Wind und Strom. Nick hat sich in sein Arbeitszimmer verkrochen. Es ist heiß. Das Schwitzen tut gut. Es erinnert ihn an produktive Zeiten in Bombay. Er öffnet die Augen und beginnt zu schreiben.
»Nikolaus!« Sie hat ihm die Kopfhörer abgenommen, nicht brutal, doch mit der ihr eigenen Autorität. »Was machst du denn hier oben?«
»Ich arbeite.« Er zieht sich sein T-Shirt über. »Sieht man das nicht?«
Jasmin hat Azim auf dem Arm. Sie setzt ihn vorsichtig auf den Boden. Der Hund liegt in einer Ecke in seinem Korb und hechelt. Azim krabbelt zu ihm hin und zieht sich an dem Korb hoch. Er weiß schon, dass er größer sein muss als der Hund, um den Kampf um Status zu gewinnen. Nick könnte ihm stundenlang dabei zugucken.
»Kannst du mal fünf Minuten mit mir kommunizieren?«
»Klar.«
Sie hockt sich ebenfalls auf den Boden, was Nick das Gefühl gibt, er sei ein ungelenkiger ignoranter König, der über den Köpfen seines Volkes thront.
»Heute ist Sonntag.«
»Hmm. Ja, kann sein.«
»Wir wollten doch wegfahren. Meinst du nicht, wir sollten mal darüber sprechen? Ich meine, man müsste ja vielleicht was buchen.«
König Nick überlegt, wie er es ihr sagen soll. »Eigentlich passt es gerade nicht so gut für
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