Grenzfall (German Edition)
Die Täter schwiegen. Den deutschen Zeugen ging die Erinnerung verloren. Der Freispruch war nur die letzte Konsequenz. Zwei Schützen. Zwei Schüsse. Ein Geschoss. Zwei Tote.
Es ist ein Uhr morgens. Draußen ist es still, nur ab und zu eine Stimme. Ein Vogel. Ein Hund. Quincy wacht auf und knurrt leise.
Nick reibt sich die Augen. »Sieht wirklich so aus, als hätten die gute Anwälte gehabt.« Er blättert in den Akten, um den Namen der Kanzlei zu finden.
Mattie trinkt einen Schluck von ihrem gefühlt hundertsten Kaffee. Bah. Kalt. »Ich frage mich, wer einen Grund hätte, diesen Uwe Jahn da runterzustoßen und es Adriana in die Schuhe zu schieben.«
Nick sieht sie an. »Du glaubst echt, sie war es nicht? Ich meine ehrlich – nicht, weil wir das sagen müssen, weil du für ihren Anwalt arbeitest oder so. Weil es einfach besser wäre.«
Ja, es wäre gut. Mattie lenkt ihre Gedanken zurück in den tristen Besuchsraum. Adriana, mit der aufgestauten Wut eines Atomreaktors. »Sie hat mir Angst gemacht. Diese Kraft, diese zerstörerische Energie, sie versteckt sie nicht.« Das ist es. Sie nagt an ihrer Unterlippe. »Ich glaube nicht, dass sie es leugnen würde.«
Schweigen. Nick blättert weiter. »Hier.« Er tippt einen Namen in seinen Laptop. »Hey, die sitzen tatsächlich in Frankfurt am Main. Und wie es aussieht, ziemlich weit oben.«
29. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
»Du kannst mich hier rauslassen.«
Liviu bremst an der großen Kreuzung.
Nadina öffnet die Beifahrertür. »Danke, dass du mich rumgefahren hast.«
»Keine Ursache, Schwester.« Er hupt und fährt los. Sie sieht dem VW-Bus nach und steckt sich ’ne Kippe an. Liviu ist cool, der lässt sich von niemandem rumkommandieren. Und trotzdem ist er irgendwie … Wie soll man das sagen? Extrem entspannt. Ihre Brüder, die ganze Familie, alle sind ständig unter Hochdruck, wie diese Kochtöpfe. Kurz vor der Explosion. Einer hat garantiert immer ein Drama zu laufen. Und alle anderen werden mit reingezogen in diesen Strudel. Wie in Fluch der Karibik 3.
Aber zurück zu Liviu. Die Pastorin lässt ihn nicht beim Pfarrhaus stehen. Auf dem Platz am Meer waren die Faschisten. Was würde Jack Sparrow machen? Genau. Das macht Liviu. Er stellt seine beiden Busse auf den Parkplatz vor dem Gefängnis. Zum Arbeiten gehen seine Leute nach Kollwitz oder an den Strand. Ihren Müll schmeißen sie auch woandershin. Die Polizisten glauben, dass Liviu Adrianas Cousin ist. Die wollen keinen Ärger, die Schisser. Lassen sie sogar aufs Klo gehen im Knast. Und bewachen sie schön, wenn es dunkel ist. Nadina hat bei Liviu übernachtet. Sie haben was gekocht, Livius Frau hat eine Schüssel ans Gefängnistor gebracht. Adriana wird kapieren, dass ihre Leute in der Nähe sind.
Nadina wäre lieber dageblieben. Sie ist gern in Livius Nähe. Nicht nur, weil er so entspannt ist. Er war der Letzte, der Papa lebend gesehen hat. Na ja, so halb jedenfalls. Besser als gar nicht. So wie sie. Sie tritt die Kippe aus und macht sich auf den Weg in Richtung Pfarrhaus. Arbeiten für die Frau Pastorin. Irgendwelche Texte übersetzen für eine Ausstellung. Ein echter Fortschritt, wenn man bedenkt, dass sie vor einer Woche noch die Kotze im Fußballstadion weggemacht hat. Keine Ahnung, was sie hier noch alles erwartet. Aber was sie zu Hause erwartet, ist klar. Nein, danke.
Ein paar junge Typen in Trikots der deutschen Nationalmannschaft. Schlechte Vibes. Nadina geht vorbei, ohne hinzusehen. Liviu hat gestern Abend im Auto Radio gehört. Deutschland ist raus.
Die Tür zum Pfarrhaus ist nicht abgeschlossen. Kann man einfach so reingehen. Das Büro, gleich rechts. Die Pastorin sitzt mit einer Brille auf der Nase vor dem Computer.
»Hi. Da bin ich.« Sie bleibt erst mal stehen.
Ein vorwurfsvoller Blick über den Rand der Brille. »Wo warst du?«
»Bei Freunden.« Ey, Frau, ich bin erwachsen, verstehst du? Volljährig.
»Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist. Beim nächsten Mal sag bitte Bescheid, wenn du nachts wegbleibst. Das ist hier so üblich.«
Dieser Akzent. Echt krass. Besser, sie verhält sich wie auf dem Internat. Stehen bleiben. Auf Durchzug schalten.
»Du kannst dich da rüber an den Schreibtisch setzen. Meine Mitarbeiterin hat Urlaub. Ich schicke dir die Dokumente, für die ich deine Hilfe brauche.«
Nadina setzt sich. Der Stuhl gibt dem Druck ihres Rückens nach.
»Du kannst ihn feststellen. Der Hebel ist rechts unten.«
Okay. Sie
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