Grenzfall (German Edition)
»Er wollte sich mir nicht anvertrauen. Und jetzt ist es zu spät.« Gesine läuft ein Schauder über den Rücken.
»Wir sind der Meinung, die Lösung des aktuellen Falles liegt in der Vergangenheit.« Die Junghans wirft dem Mann neben ihr einen schnellen Blick zu.
Gesine erschrickt. »Sind Sie der Meinung, Adriana sei nicht schuldig? Aber es deutet doch alles darauf hin.«
Die Frau zuckt die Schultern. »Kann ich noch nicht beurteilen.« Sie holt einen zusammengefalteten Spiegel -Artikel aus ihrer Tasche und streicht ihn auf dem Küchentisch glatt. »Sehen Sie sich dieses Foto an. Adriana war nach den Ereignissen 1992 mit Sicherheit schwer traumatisiert.«
Gesine wirft nur einen kurzen Blick darauf. »Ich kenne diese Story. Die Medien haben die Situation damals nicht gerade verbessert.« Plötzlich hat sie eine Idee. »Dennoch – darf ich mal?« Sie nimmt den Artikel und sieht sich die Fotos an. »Vielleicht sollten wir die Bilder in unsere Ausstellung aufnehmen? Man darf sich den Tatsachen nicht verschließen. Was meinen Sie?« Sie wendet sich wieder direkt an den Journalisten.
»Nehmen Sie doch Kontakt zu dem Fotografen auf«, schlägt er vor. »Vielleicht hat der damals noch mehr Bilder gemacht.«
Gesine hört, wie die Tür des Gästezimmers aufgeht. »Ach ja, und meinen Sie, ich könnte Nadina um einen Gefallen bitten?«
»Was denn?«, will die Junghans sofort wissen.
»Ich bräuchte jemanden, der mir für die Ausstellung einige Dokumente übersetzt. Selbstverständlich gegen Bezahlung.«
»Ach so!« Endlich steht sie auf. »Jetzt weiß ich auch, warum Sie nur Nadina hierbehalten wollten! Obwohl draußen auf Ihrem Parkplatz genug Platz für alle wäre. Komm, Nick.« Sie wendet sich zum Gehen.
Der Journalist steht ebenfalls auf. »Danke, Frau Matthiesen.« Ein gut aussehender Mann.
An der Tür dreht sich die Frau noch mal um. »Zwanzig Euro die Stunde ist der Satz. Glauben Sie nicht, Sie können Arbeit zu Dumpingpreisen kriegen. Nur weil sie eine – Romni ist.«
Dumpingpreise. Ganz schön impertinent. Gesine sieht den beiden durchs Fenster nach, wie sie in ihrem Bus verschwinden. Was hat diese Frau argumentativ gegen sie in der Hand, mal abgesehen von ihren selbstgerechten Vorurteilen? Sie fährt sich durch die Haare und schließt kurz die Augen. Nur nicht provozieren lassen. Manchmal stimmt eben die Chemie zwischen zwei Menschen nicht.
Ein verschlafenes Gesicht erscheint im Türrahmen. »Gibt’s hier einen Kaffee?« Dieses Mädchen ist ein Rohdiamant, das hat sie auf den ersten Blick erkannt. Wenn man der ein bisschen Schliff gibt, wird sie funkeln.
28. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
»28/06/1992.« Ihre Augen fliegen über die Seite. Welcher Tag ist heute?
Die Frau kommt mit dem Frühstück.
»Welcher Tag ist heute?« Adrianas Stimme ist rau. Wie lange hat sie nicht gesprochen?
Die Frau erschrickt. Die Tasse klappert, als sie das Tablett abstellt.
Angst.
»Donnerstag.«
Adriana greift nach ihrem Arm. Ungeduldig. »Nicht Tag der Woche. Tag im Monat!«
Der Arm zuckt zurück, als hätte sie Feuer in den Händen. »Nicht anfassen! Das ist verboten!«
Sie nimmt die Hand weg, hält beide Arme hoch.
»Der 28. Juni.« Die Frau geht raus. Tür zu.
Adriana guckt wieder auf die Handschrift ihres Vaters. Heute vor zwanzig Jahren.
»Meine Tochter.« Hat sie das schon einmal gelesen? Wann hat sie das gelesen? Hat sie geträumt, dass sie es gelesen hätte?
Vater in dem Feld. An der Grenze. Die Polizei kommt.
Adriana springt auf. Der Stuhl kippt um.
Heute Nacht.
Heute werden sie kommen und sie töten.
Sie läuft zum Fenster. Der Hof.
Sie läuft zur Tür. Metall.
Sie läuft zum Fenster.
Sie läuft zur Tür.
Sie geht zum Bett. Legt sich hin. Schließt die Augen.
»Vater!« Sie keucht.
Wer hat den Stuhl umgeworfen? Sie steht auf und stellt den Stuhl wieder an den Tisch.
Sie kommen.
»Frau Ciurar, Sie haben Besuch.«
Laufen. Der Raum. Wo ist Liviu? Wer ist das?
Adriana setzt sich hin.
»Hallo, ich bin Mattie.«
Florin hat gesagt, sie soll mit dieser Frau sprechen. Meti.
Adriana spricht. »Heute kommen sie, um mich zu töten.«
»Wer kommt?« Glaubt sie ihr? Tut sie nur so?
Adriana beugt sich vor. »Die Polizei. Sie haben die Großmutter getötet. Und Vater.«
Die Frau mit Namen Meti muss näher kommen, um sie zu verstehen. Der Polizist steht daneben. Er darf sie nicht hören. »Ich habe das Auto gesehen. Mit dem Mörder.«
»Ein Polizeiauto? Sind Sie sicher?«
Die Wut kommt
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