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Grenzfall (German Edition)

Grenzfall (German Edition)

Titel: Grenzfall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merle Kröger
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in den Stadtrat gewählt.«
    Gesine sieht, wie er aufhorcht. »Ihr Mann? Hatte der nicht auch was mit dem Heim zu tun?«
    »Na ja«, sie möchte es vorsichtig formulieren, »offiziell nicht, aber Sie müssen wissen, dass die Situation politisch am Rande der Eskalation stand. Es war ja nicht nur ein Wohnheim hier, sondern auch die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber. Die Leute standen jeden Tag zu Hunderten an, und die Behörde machte um sechzehn Uhr Feierabend. Es gab keine Notunterkünfte, keine öffentlichen Toiletten. Sie hatten es nicht einfach, die Zi–, die Roma. Wir haben Bundeswehrzelte mit Feldbetten aufgebaut und die Toiletten an der Kirche geöffnet. Sogar eine Gulaschkanone wurde organisiert. Es waren Kinder unter den Asylbewerbern, die oft tagelang nichts Richtiges gegessen hatten.«
    »Und Ihr Mann hat sich da ehrenamtlich engagiert?«
    »Ja, so könnte man es sagen. Wir haben beide sehr viel Zeit im Heim verbracht.« Gesine sieht aus dem Fenster. »Wir hatten diese Menschen ins Herz geschlossen. Es gab verschiedene Ideen, wie man Brücken schlagen könnte. Eine Musik- und Tanzgruppe der Roma. Wir haben Auftritte in der Umgebung organisiert. Aber letztlich war es schwierig, gegen den wachsenden Unmut in der Bevölkerung anzukämpfen.«
    »Und dann hat das Heim gebrannt?« Wieder die Junghans mit ihrem sarkastischen Tonfall. »Da hat der Unmut ja zu einer praktischen Lösung geführt.«
    »Arno hat wochenlang drüben Nachtwachen geschoben mit den Männern im Heim. Wir hatten alle Angst, dass etwas passieren könnte. Darüber hat sich damals in Bonn niemand Gedanken gemacht. Dass es hier auf beiden Seiten um Menschen geht. Mit durchaus menschlichen Gefühlen.« Warum hat sie ständig das Gefühl, sich verteidigen zu müssen? »Wir hatten kaum noch ein Privatleben. Unsere eigene Tochter kam zu kurz.« Hätte sie sonst früher gemerkt, dass ihre Ehe vor dem Aus stand? Hätte, hätte. Was gewesen ist, ist gewesen. Das Heute ist entscheidend. Die Zukunft kennt nur Gott allein. Gesine steht auf und geht zum Fenster. Die Situation am Tisch ähnelt ihr zu sehr einem Verhör.
    Ostrowski scheint ihr Unwohlsein zu spüren und rudert zurück. »Frau Matthiesen, was geschah nach dem Brand?«
    »Der Besitzer von Nordhaus Immobilien hat die Gunst der Stunde erkannt und genutzt. Er hat die Brandruine für wenig Geld von der Stadt gekauft, komplett saniert und die Ostseeterrassen daraus gemacht. Heute steht er kurz vor der Wahl zum Bürgermeister. Ein einflussreicher Mann.« Gesine fühlt sich schon besser, jetzt, wo sie wieder in der Gegenwart angekommen sind. »Es gibt hier im Prinzip nur zwei politische Richtungen. Entweder man ist für Abschottung, das betrifft wohl das gesamte rechte Spektrum, oder man setzt auf Offenheit, Durchlässigkeit – kurz: Europa. Das Vakuum in Vorpommern muss aufgelöst werden, wir befinden uns hier nicht am Rande Deutschlands, sondern im Zentrum der EU.« Sie spricht direkt zu ihm. »Dazu ist jedoch Aufklärung nötig, nicht zuletzt in den Medien. Ich bereite in der Schule gerade eine Ausstellung zur Geschichte der Roma und Sinti in Mecklenburg-Vorpommern vor.«
    Die Junghans hat offensichtlich nicht zugehört. »Sagen Sie, Frau Matthiesen, eine Frage hätte ich noch.«
    »Ja?« Gesine sieht auf die Küchenuhr, um anzudeuten, dass es dann wirklich genug ist.
    »Sie kannten doch Uwe Jahn, den Jäger, der jetzt gestorben ist. Was war der für ein Mensch?«
    Herrje, was für eine Frage. Gesine überlegt. Was gibt es über einen Menschen wie Jahn zu sagen? »Er war ein verschlossener Mann. Einer von vielen, die nach der Wende zu alt waren für einen Neuanfang. Enttäuscht, vielleicht verbittert, wer weiß das schon genau? Diese unglückliche Geschichte in Peltzow hat seine Haltung noch verstärkt. Ein Mann, der sich vom Leben ungerecht behandelt fühlte.« Sie hat das Gefühl, um den heißen Brei herum zu reden. Man sollte bei den Fakten bleiben. »Wedemeier hat ihn mitgebracht, er war schon in der Umbauphase der Ostseeterrassen als Hausmeister hier. In letzter Zeit, vor allem seit dem Tod seiner Frau, schien er zunehmend unter Druck zu stehen.« Sie schüttelt den Kopf. »Aber es war kein Durchkommen zu ihm. An dem Morgen, bevor er …« Sie erinnert sich wieder an den Anruf, den sie unfreiwillig miterlebt hat. »Er hat jemanden um Hilfe gebeten. Es schien sehr dringend zu sein.«
    »Aber Sie wissen nicht, mit wem er gesprochen hat?«
    Sie nimmt noch einen Schluck Tee. Er ist kalt.

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