Grenzfall (German Edition)
streicht über den Flachbildschirm. Er ist neu und sauber. Sie drückt den Knopf am Rechner. Der Computer erwacht sofort zum Leben. Die Tastatur sieht anders aus als zu Hause im Internetcafé. Auf dem Desktop erscheint ein PDF. Es enthält Scans von irgendwelchen Zetteln.
Die Pastorin hat sich wieder beruhigt. »Es sind Transkripte von Liedern, die wir damals für unsere Musikabende angefertigt haben.«
Nadina scrollt über die Papiere. Was soll das denn? »Ich spreche kein Romanes, Frau Pastorin.«
Wieder ein Blick über die Brille. »Du kannst mich Gesine nennen. Warum nicht? Lernt man das nicht bei euch?«
Was denkt die? In der Schule gibt’s für Romanes aufs Maul. »Mama spricht Rumänisch mit uns. Sie sagt, Papa wollte das so. Meine Brüder haben Romanes auf der Straße gelernt, als sie schon erwachsen waren. Ich nicht.«
So ein Mist. Jetzt hängt sie hier rum und wieder nichts mit Arbeit.
Gesine findet das lustig. »Nun guck nicht so, Nadina. Wir lassen die Texte weg. Es gibt Videos von den Vorführungen, das muss reichen. Du kannst mir trotzdem helfen. Komm mal her. Bring deinen Stuhl mit.«
Sie rollt hinüber. Auf dem Bildschirm der Pastorin sind Streifen mit Fotos zu sehen.
»Die nennt man Kontaktabzüge. Siehst du hier? Dieses Foto wurde später in einem Magazin veröffentlicht. Die anderen kennt nur der Fotograf. Er war hier in Kollwitz, um Interviews zu machen an dem Tag, als das Heim brannte. Wir können uns aussuchen, welche Fotos wir für die Ausstellung benutzen möchten.«
Liviu hat Nadina erzählt, dass damals alle hier in dem Heim gewohnt haben. Man gab ihnen Betten und zu essen, und sie warteten auf Papiere, um in Deutschland ein neues Leben anzufangen. Später hat man sie dann wieder rausgeschmissen. Ganz toll.
»Wer ist das?« Nadina zeigt auf das Foto, das der Fotograf mit einem Kreuz markiert hat. Das Mädchen vor der Bustür sieht aus, als würde sie den Fotografen am liebsten an die Gurgel gehen.
»Adriana. Am Tag ihrer Abreise. Man hat sie weggebracht. An einen sicheren Ort.«
Das ist also Adriana. Krasses Foto. Hinter ihr schlagen Flammen aus einem Fenster im Haus. »Wer hat das Feuer gelegt?«
Gesine nimmt die Brille ab. »Man weiß es nicht genau. Die Leute waren sehr aufgebracht. Es war eine Zeit der Unsicherheit. Und es kamen immer mehr Roma.«
»Was haben sie getan?«
»Sie haben hier draußen geschlafen. Es gab nicht genug Toiletten. Im Kaufmarkt passierten ein paar Diebstähle. Die Menschen hatten Angst vor den Fremden.«
Nadina deutet auf das Foto. »Adriana hat aber auch Angst. Und sie ist sauer.«
Just gonna stand there, watch me burn.
»Darf ich mal?«
Gesine rollt zur Seite. Nadina setzt sich vor die Tastatur. Mit dem Cursor geht sie die Fotos durch. Der Fotograf schießt in die andere Richtung. Männer mit Sonnenbrillen und Kappen oder mit Tüchern vor den Gesichtern. Einige halten brennende Flaschen in der Hand. Andere grölen mit ausgestrecktem Arm in die Kamera.
»Das musst du nehmen.« Sie haben im Internat öfter Fotostorys gemacht. Im Kunstunterricht. Raluca fand das cool. Nadina nicht so. Lieber zeichnen. »Siehst du? Adriana sieht diese Leute, als sie in den Bus einsteigt.«
Gesine macht ein unglückliches Gesicht. »Das ist kein schönes Foto.« Nee, schön ist das nicht. Nadina sieht sie an. Seufzend schreibt sie die Nummer auf.
»Hinter den Leuten da. Ist das ein Polizeiwagen?«
Die holt doch tatsächlich aus einer Schublade eine Lupe und hält sie vor den Computerbildschirm.
»Wir können das auch auf dem Bildschirm vergrößern.« Nadina drückt die Tasten und das Foto wird groß.
Gesine guckt und guckt.
29. Juni 2012, Hansestadt Kollwitz
Was für ein Kuddelmuddel. Es gibt Zeiten im Leben, die würde man irgendwann gerne hinter sich lassen. Dieser schwarze August 1992 gehört in der Hinsicht sicherlich zu ihren Favoriten.
Im ersten Moment denkt sie: Bundesgrenzschutz. Die fuhren damals diese dunkelgrünen Jeeps. Sie nimmt noch mal die Lupe zur Hand, trotz des vergrößerten Fotos. Das ist doch der weiße Stern von Nordhaus Immobilien . Ein Gedanke entsteht in ihrem Hinterkopf. Er lässt sich noch nicht fassen.
Wo waren sie stehengeblieben? Die Ausstellung, ja richtig.
»Eigentlich wollte der Fotograf eine Serie über Roma in Deutschland machen. Lass uns mal den Anfang suchen, da sind vielleicht Porträtaufnahmen, die wir brauchen können.«
Nadina zieht geschickt die Bilder nach unten weg, bis sie an den Anfang der gescannten
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