Grenzgaenger
kurz fragend auf. «Das stimmt, aber das war einige Jahre nach Jochen Reuter. Und die Karriere von Herrn Küsters bei uns war auch ziemlich kurz.»
«Man hat mir schon im HPH erzählt, dass Küsters dort aus seinem Praktikum rausgeflogen ist.»
«Das ist richtig. Danach hat er auch keine andere Praktikumsstelle mehr angenommen, sondern ganz das Handtuch geworfen.»
«Wie lange war Küsters Ihr Schüler?»
«Fast anderthalb Jahre.»
«Und daran können Sie sich so schnell und sicher erinnern? Oder hatten Sie später noch Kontakt zu ihm?»
«Nein, aber Küsters ist keiner, den man so leicht vergisst. Er war ein ziemlich schwieriger junger Mensch.»
«Inwiefern?»
«Nun, das ist nicht leicht in Worte zu fassen. Er war nicht unintelligent, hat sehr viel gelesen, scheute keine Diskussion. Nur … wie soll ich mich ausdrücken … er hat nicht verstanden, dass es sich bei den Dingen, die er las, sozusagen um Denkmodelle handelte. Er hat diese Denkmodelle in einer merkwürdigen Art und Weise zu seinem eigenen geistigen Eigentum gemacht. Wenn man so will, Halbwissen absolut gesetzt. Sein Verhalten war da sehr rigide. Er war meist nicht in der Lage, über vernünftige Argumente anderer nachzudenken.» Er unterbrach sich selbst mit einem leisen Lachen. «Er war zum Beispiel ein glühender Verfechter der Antipsychiatrie. Das Problem bestand nur darin, dass er sich mit dem Krankheitsmodell der bisher praktizierten Psychiatrie nicht auseinandergesetzt hatte.»
«Interessant.» Van Appeldorn fiel nichts Besseres ein.
«Ja, nicht wahr? Damals allerdings fand ich es weniger interessant als vielmehr unangenehm. Herr Küsters konnte nämlich mit jeder Form von Kritik an seinen Denkmodellen sehr schlecht umgehen. Er reagierte da sehr empfindlich, oft allergisch.»
«Ja, Ähnliches hat man mir auch im HPH berichtet.»
Tollens erwiderte nichts.
«Und zu Herrn Reuter fällt Ihnen nichts Auffälliges mehr ein?»
«Auffälliges? Ich weiß nicht, was für Sie auffällig ist. Meine Maßstäbe sind da vermutlich anders als die Ihren. Zudem stumpft man an einer solchen Schule mit den Jahren ein wenig ab, nehme ich an. Das Spektrum ist sehr breit gestreut. Jochen Reuter, langes Haar, Pferdeschwanz, enge Lederhosen, ein bisschen eitel. Die jungen Damen in der Klasse fanden ihn interessant, weil er sich kühl und gelassen gab, fast ein wenig arrogant, denke ich. Aber im Grunde war er ein netter Kerl. Ein Schüler, der sich Gedanken machte. Vielleicht hatte er hin und wieder mit Drogen zu tun, aber sicher nicht mit harten. Von seiner familiären Situation her war er es gewöhnt, Verantwortung zu übernehmen, und deshalb war er wohl auch bei uns immer sehr zuverlässig.»
«Und das wissen Sie alles noch so genau nach über zehn Jahren?»
«Ach, ich versuche immer, den Schüler in seiner Person zu erfassen. Das ist oft schwierig, weil unsere Schüler ja nur für eine relativ kurze Zeit bei uns sind, aber man sollte sich doch bemühen.»
«Otto Hetzel war ja auch …»
«O ja, das ist ein schlimmer Verlust, der mich auch persönlich schmerzt. Herr Hetzel war ein wirklicher Lehrer, wenn Sie wissen, was ich damit meine. Er hat sich mit allen Mitteln, auch persönlicher Art, für seine Schüler eingesetzt. Übrigens hat er sich auch sehr intensiv um Carl Küsters gekümmert.»
«War er auch Reuters Lehrer?»
«Ja, ich bin ziemlich sicher, dass er ihn zumindest zeitweise unterrichtet hat. Doch, doch, er war Reuters Deutschlehrer.»
Toppe sah, als er schon auf dem Weg zur Tür war, dass der Redakteur vom WDR auf ihn zusteuerte, aber er brauchte sich nicht zu sorgen: Der Chef stürzte an ihm vorbei, dass es ihm fast die rechte Krücke wegriss. «Aber natürlich bin ich bereit, dem WDR ein weiterführendes Interview zu geben.»
Ackermann wartete auf dem Flur. «Soll ich wat zu futtern besorgen, Chef? Brötchen un’ Kaffee un’ so?»
«Ja, das wäre prima, Herr Ackermann.»
Im Büro saßen Breitenegger und van Appeldorn, tranken Kaffee, rauchten und warteten auf ihn.
Astrid lief zum Fenster und öffnete es, kaum dass sie den Raum betreten hatte. «Mensch, das ist ja nicht zum Aushalten!»
«Wieso? Sie rauchen doch selber auch ganz kräftig», gab van Appeldorn zurück.
«Aber ich lasse wenigstens noch Sauerstoff rein.»
«Sauerstoff in hohen Dosen ist toxisch», brummte Breitenegger. «Und, wie war’s?»
«Wie immer.» Toppe ärgerte sich, dass er sich auf seinen Stuhl setzen musste, anstatt, wie er es am liebsten tat, am
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