Grenzgänger
ihre Gestalt. Marie war wohl wieder in die Realität zurückgekehrt, denn die jugendliche Verzückung war aus ihrem Gesicht gewichen. Alles, was blieb, war ein Vampir mit Wissen aus mehreren Lebenszyklen und der fanatischen Überzeugung, wieder Mensch werden zu können. Das war schlimmer als Wahnsinn. Kay beeilte sich, das Haus so schnell wie möglich wieder zu verlassen.
Der nächste Schritt war Agnes Marbergs Wohnung. Zu seiner Überraschung hatte sie am frühen Abend angerufen und ihn informiert, dass sie die Dienste der Agentur in Anspruch nehmen würde. Darum auch der kleine Ausflug ins Kloster.
Er hatte sich per Handy bereits angekündigt und sie ließ ihn ohne Probleme ein. Kay sah sich aufmerksam um. Die Wohnung war ein Altbau – hohe Decken, Holzdielen, Stuckverzierungen an der Decke. »Sehr ansprechend«, kommentierte er.
Agnes stand hinter ihm, während er ihr Wohnzimmer inspizierte, die Hände ineinander verschränkt. »Danke.«
»Und wo befindet sich Ihr Schlafzimmer?«
Agnes errötete tatsächlich und Kay schmunzelte. Dass es so etwas noch gab. Er folgte ihr in den nächsten Raum. Das Schlafzimmer war recht schmucklos eingerichtet und wurde hauptsächlich von einem breiten Bett und einem Kirschholzschrank dominiert.
»Wo sagten Sie, steht er, wenn er im Raum ist?«
Agnes deutete auf die rechte Seite des Bettes. Das Fenster des Zimmers lag auf der gegenüberliegenden Seite. Er sah wieder zu Agnes. »Würden Sie bitte kurz den Raum verlassen?«
»Wozu?«
»Weil ich gern einige Vorsichtsmaßnahmen ergreifen möchte. Ich kann mich ja nicht einfach nachts in Ihrem Schlafzimmer aufhalten, denn wir wissen nicht, wie Ihr nächtlicher Besucher darauf reagiert.«
Agnes sah zum Fenster und nickte. Gehorsam verließ sie den Raum und Kay massierte sich mit den Fingerspitzen den Nasenrücken. Ihre großen Augen riefen wieder dieses vertraute Gefühl in ihm wach. Wie schon im Büro konnte er nicht genau sagen, was genau Agnes Blick für Erinnerungen heraufbeschwor. Aber Kay kannte sich selbst gut genug. Wenn er diese Erinnerungen in sich vergraben hatte, wäre es unklug sie wieder hervorzuholen.
Seufzend ließ er seine Hand wieder sinken und trat zurück, bis er die Wand im Rücken spürte. Sehen, das war wichtig. Erst, als er den gesamten Raum im Blick hatte, hob er die rechte Hand, griff nach dem Zipfel einer Energieader, die, für menschliche Augen unsichtbar, über ihm schwebte. Im Zimmer wurde es heller, als er die Kraft dieser Quelle nutzte, um etwas aus seiner Heimat in die menschliche Welt zu holen. Der Geruch von Feldern und Wiesen breitete sich in der Luft aus und durchdrang jeden Winkel. Die Stelle, an der Kay stand, färbte sich goldfarben und wurde heller, je enger er seine Finger zusammenführte. Es war ein Faden aus Magie, den er sponn. Kay drehte seinen Zeigefinger in immer kleiner werdenden Spiralen und das Leuchten wickelte sich wie Garn um seine Hand.
Er wusste, dass sich nun auf seinem Gesicht die Züge veränderten und seine Miene einen unwirklichen Ausdruck annahm. Wenn er die Kraft seiner Heimat nutzte, konnte er sein wahres Äußeres nicht mehr verbergen. Die menschliche Hülle verschwand und Kay von Ferndens wahre Natur, die eines Seelie-Sidhe, trat hervor. Es war ebenso erschreckend, wie schön, und der Hauptgrund, warum er Agnes aus dem Zimmer haben wollte, solange er den Zauber wob.
Kay hob die zweite Hand und bewegte die Finger, bis die hellen Lichtfäden sich zu einem komplizierten Muster verwoben, welches sich im ganzen Raum ausbreitete. Als er damit fertig war, warf er das gewobene Netz mit beiden Händen in die Luft, wo es aufglühte und dann schlagartig verblasste. Er erhaschte noch einen Hauch des Dufts seiner Heimat. Seit er sie verlassen hatte, war dieser Geruch selten geworden.
Er fuhr sich über das Gesicht, um sicherzustellen, dass seine Maske wieder funktionierte und öffnete dann die Schlafzimmertür. Davor stand Agnes.
»Was war dieses Licht?«, fragte sie.
»Es ist jetzt fort.«
»Das meinte ich nicht – Angst hatte ich keine«, erwiderte sie energisch.
»Nicht?«
»Nein.« Sie ging an ihm vorbei ins Zimmer, das nicht anders aussah, als zuvor. »Was haben Sie hier gemacht?«
»Eine Art Falle aufgestellt.« Kay wies mit dem Kinn zum Fenster. »Lassen Sie es heute Nacht geschlossen, unter allen Umständen. Ansonsten können Sie sich ganz normal verhalten. Ich werde morgen Abend wiederkommen, und sehen, ob wir etwas finden.«
Agnes nickte.
»Dann bis
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